Arabische Welt

Frühling des Protests

Führen die arabischen Revolutionen zu Gemeinwesen, die allen Bürgern gleiche Rechte gewähren? Während der libysche Bürgerkrieg weiter tobt, ist die Instabilität mit Händen zu greifen. Auf der Arabischen Halbinsel werden Proteste unterdrückt; in Ägypten setzen die Neuerer Massnahmen gegen Mubaraks Clique durch.
Proteste von Kopten
Kopten

Mit einer Grossdemonstration forderten christliche Kopten am Samstag, 16. April, in Kairo eine säkulare Verfassung und Bürgerrechtsgarantien. Gemäss einem Bericht marschierten gegen 100‘000 Kopten vom christlichen Stadtteil Shubra über acht Kilometer zum Tahrir-Platz; manche Muslime hätten sich ihnen angeschlossen. Die Kopten hätten angemessene Forderungen, sagte der Priester Mettias Nasr, einer der Organisatoren. „Wir wollen einen säkularen, demokratischen Staat, eine Verfassung ohne Religionsklauseln und Gesetze, die Diskriminierung verbieten.“

Kopten auf der Strasse

Banner forderten die Bestrafung von Kirchenbrandstiftern und Mördern, dazu die Freilassung von 18 koptischen Jugendlichen, die nach einem Sit-In am 17. März zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. Nasr: „Wir wollen, dass unsere Kirchen, die von der nun aufgelösten Geheimpolizei geschlossen wurden, wieder geöffnet werden. Die Menschen wollen beten – und die Kirchen sind geschlossen.“ Rami Kamel von der Maspero-Jugendbewegung kündigte weitere Manifestationen an, um den Druck auf den Militärrat aufrechtzuerhalten, „bis er unseren Forderungen nachkommt“. Weiterhin leiden Kopten Gewalt und werden gedemütigt: Einem Christen wurde im März ein Ohr abgeschnitten. Zwei christliche Dörfer in Oberägypten werden seit Ende Januar von einer Bande erpresst und terrorisiert.

Muslimbrüder halten an ihren Zielen fest

Am 14. April machten führende Vertreter der Muslimbrüder an einer Veranstaltung deutlich, dass sie wie zuvor einen islamischen Staat aufgrund der Scharia einführen wollen. Nach einem Bericht verzichtete die koptische Kirche in der Folge darauf, die Muslimbrüder zum Osterfest einzuladen, und suspendierte ihren Dialog mit der islamistischen Bewegung, die am Nil als die am besten organisierte gilt, aber von der Revolution überrascht wurde. Vertreter anderer politischer Parteien kritisierten die Muslimbrüder für ihre Sturheit. Die Ägypter würden an der Urne darauf eine Antwort geben.
Die Führer der Muslimbruderschaft scheinen uneins über ihren Kurs im revolutionär bewegten Ägypten zu sein. Salafisten, dem saudi-arabischen Modell verpflichtete Islamisten, versuchen unter anderem mit Attacken auf christliche Kirchen in der Massenbewegung mehr Einfluss zu gewinnen. Drei Kirchen wurden in den vergangenen Wochen angegriffen. Die Salafisten wollen laut der christlichen Nachrichtenagentur AINA Kirchen nur ausserhalb von Siedlungen zulassen; zerfallende Gebäude dürften nicht renoviert werden.

Ägypten strahlt aus

Die Auflösung von Mubaraks Machtmaschine, der seit 1978 herrschenden Nationaldemokratischen Partei, durch ein Kairoer Gericht ist ein weiteres Signal für den Fortgang der Revolution. Ihren Besitz hat der Staat eingezogen. Ein Sprecher der Partei forderte die Mitglieder auf, sich aus der Politik zurückzuziehen. Der greise Präsident selbst und seine Söhne wurden letzte Woche in Gewahrsam genommen. Die Vorgänge in Ägypten, dem bevölkerungsreichsten und zentralen Land der Arabischen Welt, provozieren auf der Arabischen Halbinsel Reförmchen, doch echte Reformbereitschaft lassen die Herrscher nicht erkennen.

Erste Zugeständnisse Assads

In Syrien sucht der Diktator Baschar al-Assad mit der Aufhebung der drakonischen Notstandsgesetze (Versammlungsverbot, Telefonüberwachung) und der Ankündigung von Reformen die Protestbewegung in den Griff zu bekommen. Seine Sicherheitskräfte haben es mit der Erschiessung von 200 Unzufriedenen und der Abriegelung von Städten nicht geschafft.
Auf die Forderungen nach Demokratie und der Auflösung des Sicherheitsapparats ging Assad in seiner Ansprache am Vorabend des Unabhängigkeitstags (17. April) nicht ein. Immerhin gestand er zu, zwischen den Bürgern und den Institutionen des Staats gebe es eine Kluft. Sie sei zu „eliminieren“; das dazu notwendige Vertrauen sei allein mit Transparenz aufzubauen. Die anhaltende Korruption macht die Syrer wütend. Am Sonntag kam es auch in der nördlichen Metropole Aleppo und der Drusenhochburg Suweida im Süden des Landes zu Demonstrationen. „Gott, Syrien, Freiheit“, riefen die Protestierenden, bevor sie von Assad-Anhängern attackiert wurden.
Im Jemen spitzt sich der Konflikt zu. Bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen im Bergland an der Südspitze der Arabischen Halbinsel, in dem uralte Stammesloyalitäten von den Herrschern manipuliert werden. Wegen der drohenden Anarchie haben Organisationen ihre Mitarbeitenden aus dem Jemen evakuiert.

Abwehrversuche

Englischsprachige Websites am Persischen Golf und in Saudi-Arabien lassen erkennen, wie die Herrscher die Bevölkerung am Protest zu hindern und von ihm abzulenken suchen. Der Gouverneur der Pilgerstadt Mekka eröffnete eine Facebook-Seite des Jugendforums der Stadt gleich selbst. Das Jugendforum solle die Jungen kulturell und sportlich weiterbringen, sagte der Gouverneur am Sonntag in Dschidda. Er erwähnte auch das Vorhaben, ein „König-Abdullah-Stadion“ zu errichten. Doch weiterhin ist es Frauen verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne Aufsicht eines Verwandten zu bewegen oder ein Auto zu lenken. In Abu Dhabi soll die Zahl der Bürger, die sich an der Wahl der Hälfte des „föderalen Nationalrats“ beteiligen können, erhöht werden. In Oman wurden 18 von 26 Personen, die bei Protesten in der Industriestadt Sohar festgenommen worden waren, wieder freigelassen.

Längerer Schatten Irans

Mit der Schwächung Ägyptens, dem drohenden Bürgerkrieg im Jemen sowie Protesten im Osten Saudi-Arabiens und in Bahrain wird das Streben der Islamischen Republik Iran nach regionaler Vormacht für die sunnitischen Herrscher der Halbinsel bedrohlicher. Im Golf-Kooperationsrat (GCC), dem die Öl-Emirate und Saudi-Arabien angehören, werden Strategien zur Abwehr der iranischen Machtgelüste erörtert. Ein Kommentator konstatiert eine verbreitete Furcht, Bahrain sei „die erste Verteidigungslinie im Showdown zwischen den GCC-Staaten und Iran“.

Am Sonntag drohte Saudi-Arabien, seine Diplomaten aus Teheran abzuziehen, und forderte einen besseren Schutz für sie. Der iranische Präsident Ahmadinedschad bezichtigte am Montag die USA, die Spannung zwischen Iran und den arabischen Nachbarn zu schüren und Zwietracht zwischen Sunniten und Schiiten zu säen. An der Parade zum Tag der Armee sagte er, die Menschen in der Region wünschten einen „neuen Mittleren Osten“. Aber dieser werde „mit göttlicher Gnade ohne die amerikanische Vorherrschaft und die Anwesenheit des zionistischen Regimes zustande kommen“.

Datum: 19.04.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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