Die Zahl der Evangelischen in Brasilien wächst vor allem im Nordosten des Landes weiter. Das Wachstum liegt aber deutlich unter den Erwartungen und Hoffnungen der Protestanten. Zudem ist die evangelische Kirche stark zersplittert, was auch ihren politischen Einfluss schwächt. Noch vor wenigen Jahren sagte man der evangelischen Kirche Brasiliens Wachstumsraten nach, die ans Unglaubliche grenzten. Bis 2020 sollte die grösste katholische Nation der Welt mehrheitlich evangelisch sein. Die Auswertung der Volkszählung 2000, deren Resultate kürzlich bekannt wurden, brachten Ernüchterung. Mit 74 Prozent (125 Millionen) ist die Zahl der Brasilianer, die sich zum Katholizismus bekennen, grösser als erwartet. Und eine zweite Feststellung: Die Zahl der Evangelischen war bedeutend kleiner, als erhofft: Nur 26 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer (15 Prozent) bekennen ihren evangelischen Glauben. Die grösste Überraschung ist dagegen das enorme Wachstum der Atheisten. Von einem Prozent im Jahr 1980 wuchs ihr Anteil auf 7,3 Prozent (12 Millionen) im Jahr 2000. Auch für die allgemeinen Wahlen im Herbst letzten Jahres gingen die Hochrechnungen der Evangelischen nicht auf. Ihre Vertretung im Kongress und im Senat nahm zwar zu, aber weit weniger, als erwartet wurde. Statt der erhofften 80 Sitze im Kongress (514 Sitze) konnte das evangelische Lager von bisher 46 auf 54 Deputierte zulegen, im Senat (80 Senatoren) von zwei auf vier. Das evangelische Lager liegt dabei sowohl im Kongress wie im Senat weit unter den 15 Prozent des eigenen Bevölkerungsanteils. Die Wachstumsrate der Evangelischen liegt landesweit bei 7,42 Prozent, also rund vier mal höher als die Wachstumsrate der Bevölkerung (1,63 Prozent). Am schnellsten wächst die evangelische Kirche dort, wo sie noch am schwächsten ist, nämlich im Nordosten des Landes. Mit einem Bevölkerungsanteil von nur 10,3 Prozent Evangelischen wächst die Kirche dort durchschnittlich jährlich um 8,6 Prozent. Der Gliedstaat Roraima hat sogar eine Wachstumsrate von 14,22 Prozent. Das kleinste Wachstum mit nur 2,08 Prozent geschieht im äussersten Süden (Rio Grande do Sul), wo sich die Mehrheit der Lutheraner niedergelassen hat und die Episkopalkirche entstand. São Paulo belegt mit 18,45 Evangelischen den 12. Platz. Die Gliedstaaten mit mehr als 20 Prozent Evangelischen sind: Espírito Santo mit 28,8 Prozent, Rondonia 28,6 Prozent, Rio de Janeiro mit 22,1 Prozent, Goiás mit 22,1 Prozent und Acre mit 22,0 Prozent. Die Brasilianer evangelischen Glaubens waren schon immer in politischer Hinsicht getrennt. Heute sind sie es mehr denn je. Wir finden Evangelische im ganzen politischen Spektrum verteilt. Während bis vor kurzem die Vision schlecht informierter Zeitgenossen dahin ging, dass wohl bald ein evangelischer Kandidat die evangelische Wählerschaft vereinen und zu einem geschlossenen Block formen würde, haben die neuen Wahlen klargemacht, dass sowohl die evangelische Wählerschaft als auch deren Vertreter nicht in der Lage sind, sich politisch zu einigen. Je näher das evangelische Lager der Macht kommt, umso grösser wird die Tendenz zur Spaltung. Nach den Worten des evangelischen Soziologen Paul Freston ist es nicht der Geldbeutel, der sich als letztes bekehren muss, sondern der Hunger nach Macht. Der brasilianische Soziologe Alexandre Brasil Fonseca beobachtet eine wachsende Tendenz zum so genannten "evangelischen Diskurs mit Schwerpunkt sozialer Gerechtigkeit”. Durch die Hinwendung links orientierter Politiker zum evangelischen Glauben, hat sich die Links-Tendenz verschärft. Verschiedene militante linke Politiker setzen nach ihrer Bekehrung ihre Aktivität im linken Lager fort. Die Ursache für diese Links-Tendenz der evangelischen Politik liegt im zunehmenden Kontakt der Kirchen mit der sozialen Wirklichkeit. Die historischen protestantischen Kirchen begannen ihre Arbeit in Brasilien mittels sozialer Projekte, die aber im Laufe der Jahre verkümmerten. Die Pfingstkirchen tauchten 1910 ohne soziale Projekte auf und wurden ohne solche gross. Heute hat sich die Situation grundlegend verändert. Alle evangelischen Gruppen sind auf sozialem Gebiet tätig. Die neuen Kirchen dringen in bisher verschlossene soziale Schichten ein. Künstler, TV-Sternchen, Athleten, Polizeifunktionäre oder Gefangene, welche sich der evangelischen Kirche zuwenden, verändern das Gesicht der evangelischen Körperschaft als Ganzes. Dieses Gesicht ist äusserst dynamisch geworden. Heute tritt die Universalkirche des Reiches Gottes (IURD) als führende politische Kraft des evangelischen Lagers auf. Auf mittlere Sicht jedoch wird sich ihr autoritäres Modell als verhängsnisvoll für die Kirche auswirken. Sie kennt keine demokratische Teilnahme ihrer Glieder. Die Anordnungen kommen von oben. Die enormen institutionellen Interessen der Kirche stehen im Vordergrund. Im Kongress hat die IURD einen populistischen Mitte-Links Diskurs, in dem sie gegen die Globalisierung und den Neo-Liberalismus zu Felde zieht. Sie steht in Gefahr, mit der Zeit eine Art soziale Tradition nach dem Muster der römisch katholischen Kirche zu schaffen und sich dadurch selbst ins Abseits zu manövrieren. Im Unterschied zu Westeuropa, wo die Frage nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Denomination nicht unbedingt trennen muss, haben diese Grenzen in Brasilien grössere Bedeutung. Man unterscheidet klar zwischen Evangelischen, Protestanten und Reformierten, zwischen historischen und Neo-Pfingstkirchen. Die sogenannten traditionellen Kirchen, welche als erste die Bibel brachten, die ersten Spitäler und Schulen für Sklavenkinder errichteten, (Methodisten, Presbiterianer, Lutheraner, Kongregationalisten, Baptisten) zählen heute 7 Millionen Mitglieder. Die sogenannten klassischen Pfingstkirchen, zu welchen "Assembleia de Deus”, Congregação Cristã, igreja Quadrangular gezählt werden und sich durch starkes Wachstum und agressive Evangelisation auszeichnen, zählen rund 13 Millionen Mitglieder (50 Prozent der Evangelischen). Das dritte Lager, die sogenannten Neo-Pfingstkirchen, der Wohlstandstheologie verpflichtet, verfügt über 80 Prozent der gesamten evangelischen Medien. Dazu gehören die Universalkirche des Reiches Gottes, Igreja Renascer, Sara nossa terra, Igreja International da Graça und andere. Sie zählen rund sechs Millionen Anhänger. Doch auch diese Art, die multiforme evangelische Körperschaft zu definieren, geht an der weit komplexeren Wirklichkeit vorbei. Auch das sogenannt traditionelle Lager, das die alten Kirchen vertritt und dem Pfingst- und Neopfingstlager vorwirft, über keine oder eine völlig konfuse Doktrin zu verfügen, ist durch Machtkämpfe und doktrinäre Abgrenzungen gespalten. Allein innerhalb der presbyterianischen Kirche, welche das Erbe Calvins vertritt, finden wir vom religiösen Pluralismus bis hin zur Bewegung der Puritaner unvereinbare Gegensätze. Unter solchen Umständen bleibt trotz dem Wachstum der Evangelischen auf der politischen Ebene die Vorstellung eines evangelischen Flügels, vom welchem grundlegende politische Weichenstellungen erwartet werden könnten, reine Retorik. Elben M. Lenz César, Chefredaktor der führenden evangelischen Zeitschrift Brasiliens "Ultimato", spricht den Kern der Sache an: "Wenn alle 26 Millionen Evangelische ein guter Geruch Christi (2.Kor.2;15), das Salz der Erde und das Licht der Welt (Matth.5;14) wären, dann hätten wir ein anderes Brasilien. Die persönliche Verpflichtung mit Jesus Christus ist unvergleichbar wichtiger als ein evangelischer Staatspräsident.” Die katholische Kirche versucht, ihre sinkenden Zahlen mit der Realität in Einklang zu bringen. Sie spricht angesichts des evangelischen Vormarsches von einem "Gesundschrumpfen”. Zehn Prozent ihrer Gläubigen verlor die katholische Kirche allein zwischen 1990 und 2000. Professor Antônio Plávio Pierucci, der seit 30 Jahren dem brasilianischen Zentrum für Analysen und Planung (CEBRAP) vorsteht, sieht diesen Niedergang vor dem Hintergrund der konservativen Art, wie Papst Johannes Paul II die katholische Kirche führt. Der Generalsekretär der Bischofskonferenz (CNBB), Dom Raymundo Damasceno Assis, versteht den Vorgang als Sieg des bewussten über den rein traditionellen Glauben. "Was der Katholizismus an Quantität verliert, gewinnt er an Qualität und evangelischem Zeugnis”, meint auch die katholische Theologin Maria C. Luchetti Bingemer. Bereits 1997 schrieb Eugênio Araújo Sales, emeritierter Erzbischof von Rio de Janeiro: "Man sagt, Brasilien habe 122 Millionen Katholiken. Wenn die Hälfte davon austreten würde, nähme die Kirche keinen Schaden." Papst Johannes Paul II. hat Brasiliens Bischöfe dazu aufgerufen, verstärkt das religiöse Grundwissen unter den Katholiken ihres Land zu fördern, um der Ausbreitung der Sekten entgegenzuwirken (mit Sekten sind fast alle auserhalb der katholischen Kirche gemeint). Der grosse Zulauf zu den Sekten besonders von Menschen aus den unteren sozialen Schichten stelle eine "wahre Herausforderung" dar, betonte der Pontifex bei einer Audienz für brasilianische Bischöfe im Vatikan. Er kritisierte die aggressiven Formen der "Abwerbung von Gläubigen" (Proselytismus), die sich immer weiter ausdehne. Das Phänomen spreche dafür, dass die Betroffenen eine unbefriedigte Sehnsucht nach dem Übernatürlichen hätten. Im Herbst fand ein regionaler Missionskongress in der Stadt Caruaru statt.800 Pfarrer, Gemeindeleiter und Missionare nahmen daran teil. Hauptthema war die Evangelisation im Nordosten Brasiliens, wo die evangelischen Gemeinden noch schwach sind. Dabei war auch der Missionar Beat Roggensinger, der mit der Schweizer Allianz Mission im Nordosten Brasiliens arbeitet. Im Nordosten, wo die Armut des Landes am grössten ist, ist die Gemeinde Jesu am kleinsten Man spricht von 10000 Dörfern im Sertão – einer Region im Nordosten, die hügelig und besonders von der Trockenheit geplagt ist – mit bis zu 1000 Einwohner, die keine evangelische Gemeinde haben. Das hängt mit dem Aberglauben, sowie einem starken Volkskatholizismus zusammen. Die missionarische Bewegung in Brasilien gewinnt an Kraft. Die Gemeinde will Verantwortung übernehmen. "Die geografische Lage sollte heute nicht die Priorität bestimmen, sondern die verlorenen Menschen, die noch nicht von Jesus gehört haben”, sagt der Missiologe Ronaldo Lidório. Wie die Vision der Mission wachse, verliere die Sicht der eigenen Denomination an Bedeutung. Das sei ein grosser Fortschritt, so Lidório. Am Kongress wurde auch Kritik am Wohlstandsevangelium geübt. Es sei eine Verdrehung des Wortes Gottes und ein Betrug an der Gemeinde, hielten die Redner fest. Die Dekadenz betreffe alle Gemeinden: "Christen geben mehr aus für Kaugummi, als für Mission. Sie geben mehr aus für: Mineralwasser, Bonbons, Kosmetik, Reinigungsmittel, überflüssige Lebensmittel und Haustiere als für Mission", sagte ein Kongressteilnehmer. Klar wurde festgehalten, dass die Zeit der brasilianischen Kirche gekommen sei, um Mission weltweit voranzutreiben. Brasilien zählt heute offiziell mehr als 2800 Missionare im transkulturellen Einsatz. Quelle: Idea Schweiz/KipaZahlen brachten Ernüchterung
Enttäuschende Wahlen
Grosses Wachstum im Nordosten
Politischer Pluralismus
Die Links-Tendenz
Undemokratische Universalkirche
Drei Richtungen
Flügelkämpfe
Gesundschrumpfen bei Katholiken
Papst: Religiöses Grundwissen fördern
Nordosten Brasiliens soll evangelisiert werden
Datum: 28.01.2003