"Matrix" beharrt auf einer dystopischen Sicht der Gesellschaft, die in einer umfassenden digitalen Illusion gefangen ist. Auf der Ebene der Bildphilosophie verwendet "Matrix" ein Verfahren der Dekomposition: die binäre Struktur von Null und Eins, worauf ein Grossteil der abendländischen Geistesgeschichte und Logik gründet, wird hier untergraben. Weit mehr als eine schlichte Dualität entfaltet sich hier eine multiperspektivische Sicht der Welt, die jederzeit so und auch wieder anders sein kann. Der grundsätzliche Zweifel an der Wahrheit der Bilder bleibt in diesem Erzähluniversum bestehen. Der grundlegende Zweifel an der Wahrnehmung unserer Lebenswelt, die alltäglichen Sinnestäuschungen, die selektiven Prozesse, die verzerrten Eindrücke über medial vermittelte Inhalte, das Unbehagen gegenüber einer unsichtbaren und totalitären Kontrollinstanz im weltweiten Netz: all das kulminiert in einer Bilderorgie, die sich fortlaufend zerstört und neu erfindet. In einem grandiosen Spektakel inszeniert die Matrix-Trilogie die Grundspannung zwischen Bildzerstörung und Bildschöpfung und wagt sich damit weit näher an den Kern des Descartesschen Zweifels heran als etwa Spielberg in "Minority Report". Transmediale Verschmelzung und multiperspektivischer Bilderdiskurs sind Kennzeichen eines Phänomens, das sich selbstreflexiv in die globale Vermarktung einbringt. Filmproduzent Joel Silver erklärt in der populären Branchen- und Fachzeitschrift "Hollywood Reporter", dass die beiden Fortsetzungsstreifen "The Matrix Reloaded" und "The Matrix Revolutions" eigentlich ein Film seien, der in der Mitte auseinander geschnitten wurde: "Wir dachten, das Publikum wolle nicht ein ganzes Jahr auf die Fortsetzung warten, weil die Handlung genau in der Mitte abbricht", sagt Silver. Die Geschichte werde aber nicht nur in den Filmen, sondern auch im Computer erzählt. "Es ist wohl die erste transmedial erzählte Story der Filmgeschichte", betont der Produzent. Die Lancierung der Matrix-Trilogie ist mehr als eine gewöhnliche Marketingkampagne eines Blockbusters. Es handelt sich um den ersten umfassenden Versuch, medienübergreifend eine Verschmelzung von Kino, Computergame und Online-Werbung zu vollziehen. Wer sich auf die Weltsicht der aktuellen Cyberpunkwelle einlässt, kommt einerseits mit den "Animatrix"-Kurzfilmen in Kontakt und wird andererseits auch mit dem Spiel "Enter the Matrix" konfrontiert. Üblicherweise beschränkt sich das Engagement der Hollywood-Studios darauf, die digitale Verwendung von Filmnamen und Stargesichtern zu erlauben; alles weitere übernimmt der Spielhersteller. Demgegenüber ist "Enter the Matrix" von Grund auf als modularer Bestandteil der Matrix-Welt geplant. Die Regisseure Andy und Larry Wachowski haben ein 244 starkes Drehbuch für das Spiel verfasst und exklusiv für das Game eine Stunde Filmmaterial gedreht. Hier erlebt man Szenen, die im Film nicht vorkommen. Damit wird eine eigenständige Form der Intertextualität aufgebaut. "Enter the Matrix gab den Wachowskis die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erweitern und sich anderen Charakteren zu widmen", sagte Matrix-Hauptdarsteller Keanu Reeves bei der Präsentation des Spiels in Hollywood. Das Spiel macht die Pilotin Niobe und den Kämpfer Ghost - Nebenfiguren der Kinofilmhandlung - zu Hauptfiguren. Die Matrix Stars Neo, Trinity und Morpheus werden hier zurückgenommen. Sie tauchen nur in kurzen Szenen auf und lassen sich im Computergame nicht spielen. Auch Ghost und Niobe sind im Kampf gegen die Maschinen engagiert. Der Spieler bzw. die Spielerin unterstützt sie in ihrem Versuch, Zion, die letzte Stadt der Menschheit nahe des Erdkerns, vor dem Zugriff der Maschinen zu schützen. Die Spielhandlung läuft parallel zum Film und verschmilzt an entscheidenden Stellen mit dem narrativen Strang des Kinofilms. Dabei erhält der eingeweihte Spieler zusätzliche Informationen zum Matrix-Weltbild. Das Spiel klärt teilweise, warum welche Figuren an bestimmten Stellen des Films auftauchen. Die Werbekampagne für den doppelten Start des Kinofilms "Reloaded" und des Computergames "Enter the Matrix" im Mai 2003 beruht im Kern auf einer Serie von neun computergenerierten "Animatrix"-Kurzfilmen, die im japanischen Anime-Stil produziert und stufenweise auf der Seite www.theanimatrix.de aufgeschaltet wurden: "The Second Renaissance" - ein episch erzählter Zweiteiler - handelt von der Vorgeschichte des Krieges der Menschheit gegen die Maschinen und davon, wie die Matrix eigentlich entstanden ist. "Program" führt eine klassische Martial-Arts-Szene ein, die an die Spezialeffekte des Hongkong-Kinos erinnert. Eine junge Frau zu Pferd kämpft mit ihrer Lanze gegen einen Samurai in vollständiger Kampausrüstung. Auf dem Grat zwischen Leben und Tod siegt sie gegen den übermächtigen Feind; ein Gefecht, das sich zum Schluss als Trainingssimulation erweist. "Detective Story" geht vom Genre des Film noir aus und erzählt aus dem Blickwinkel eines Privatdetektivs die Suche nach der Hackerin Trinity. Die Begegnung mit ihr ist gleichzeitig der Tod der Hauptfigur. Die Animatrix-Kurzfilme bauen das Matrix-Universum weiter aus und sind Fragmente eines Neo-Mythos: die Geschichte der Weltzerstörung im Krieg zwischen Menschheit und Maschinenimperium sowie der darauf folgende Befreiungskampf. Neue Figuren tauchen auf, neue Geschichtsfragmente werden erzählt, und dadurch wird das Kinoerlebnis entscheidend erweitert. "The Final Flight of the Osiris" - ebenfalls Teil der Animatrix-Kurzfilme - ist das Bindeglied zwischen dem ersten Matrix-Kinofilm und dem Computergame "Enter the Matrix", sozusagen das Kapitel 1.5 der Matrix-Trilogie. Zu Beginn des Spiels meldet sich ein aufgeregter Osiris-Captain Thaddeus: "Ich fürchte, dies ist unser letzter Funkkontakt. Wir stehen unter heftigem Beschuss und sind kurz davor, die Kontrolle über unser Raumschiff zu verlieren. Wir werden eine Notsendung in die Matrix versuchen." Diese Notsendung übernehmen Ghost und Niobe im Computerspiel. Der Film ist das dominierende narrative System der Populärkultur in der Gegenwart. Für das 21. Jahrhundert postulieren Medientheorien jedoch die Ablösung des Kinos durch das Computerspiel (vgl. Grimm 2003). Mit der transmedialen Verschmelzung bei Matrix wird nun effektiv eine neue qualitative Ebene erreicht. Das Computerspiel ist eine Form der Aktion und der Spielfilm eine Form der Repräsentation. Die Wachowski-Brüder verwenden nun für ihre Medien-Inszenierung ein Konzept der Simulation, das sowohl in der Filmhandlung eine zentrale Rolle spielt als auch für die Interaktion mit dem virtuellen Erlebnis-Universum entscheidend ist. Die alles umfassende Matrix wird zum Code für ein global inszeniertes Erlebnismilieu. Auf der Ebene der Simulation treffen sich Kinofilm und Computerspiel auf einem gemeinsamen Terrain, sie ist die narrative und ästhetische Schnittstelle. Die gegenseitige Interdependenz und der Austausch über diese Schnittstelle ist so stark, dass das Erzählprinzip und die Repräsentanz der Bilder parallele Welten im Kino und an der Spielkonsole aufbauen können. Hier erfinden die Regisseure sowohl narrativ als auch interaktiv die Simulationsregeln neu: "Enter the Matrix" und die Matrix-Trilogie spielen auf der Klaviatur einer beabsichtigten und konstruierten Intertextualität. Was aus Sicht der Genretheorie hinter dem Phänomen "Matrix" steht, ist die Vision und das Erzählprinzip des Cyberpunk, als Subgenre des Science-Fiction. Die erstmals von William Gibson in seinem Roman "Neuromancer" (1984) kreierte Cyberpunk-Kultur beschreibt einerseits die Beherrschung der Welt durch korrupte Regierungen, Militärs und Konzerne. Es ist immer ein radikaler Zustand der Dystopie, ein degenerierter Zustand der Gesellschaft. Andererseits gibt es aber auch die Rückbesinnung auf alte Ideale und Werte sowie die Notwendigkeit des Widerstands. "Es sind die 'Punks' verschiedenster Ausprägungen, die Unangepassten und Verweigerer, die in der Welt des Cyberspace zu Lichtgestalten werden. Sie vegetieren in den Aussenbereichen der Zivilisation ("Johnny Mnemonic"), infiziert durch implantierte Abhängigkeiten und Deformationen ("Dark City", "Strange Days"), meist als Piraten oder Verfolgte des Systems, mit dem sie in einem scheinbar aussichtlosen Kampf liegen ("The Matrix"). Die Realitäten sind vertauscht oder vertauschbar. Die Wirklichkeit ist nichts anderes als eine trickreiche Simulation ("The Thirteenth Floor"). Die Helden der Cyberpunk-Filme besitzen nicht nur die Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Realitätsebenen hin und her zu wechseln, sondern es gelingt ihnen auch früher oder später, die Konzepte ihrer Unterjocher zu durchschauen und sich mit deren eigenen Waffen gegen sie zu behaupten." (Everschor 1999) Hätte sich Gibson je vorstellen können, dass im Jahr 2003 die Matrix-Fangemeinde genau diese Rolle einnehmen und sowohl im Kino als auch an der Spielkonsole einen Beitrag zur Befreiung der Welt leisten würde? Die Fähigkeit, frei zwischen den Realitätswelten hin und her zu wechseln und von der Unterdrückung durch Simulations-Maschinen befreit zu werden, ist allen Beteiligten zu wünschen. Das Idealbild des Cyberpunk-Helden bricht sich auf jeden Fall ironisch im Zwang einer globalen Vermarktungsstrategie von Warner Bros. und Infrogrames. "Entertainment ist nicht mehr nur das Erzählen einer Geschichte, sondern der Aufbau einer eigenen Welt, in der sich Menschen ausdrücken können", erklärt Infrogrames-Chef Bruno Bonnell. Doch was geschieht, wenn Cyberpunk zur Unterhaltung der Online-Generation wird? Sie wird zum Franchising-Projekt, zu einer sicheren Quelle der Gewinnmaximierung für die Auswertungsgesellschaften Warner Bros. und Village Roadshow. Die Box Office Zahlen aus den USA belegen, dass bereits in den ersten vier Tagen von "The Matrix Reloaded" Rekordwerte erreicht wurden (vgl. www.variety.com ). 135 Millionen US-Dollar Einkünfte am ersten Wochenende sind jedoch nur der Anfang einer durchdachten transmedialen Auswertungsstrategie. Die Verschmelzung der Medien führt über eine hoch effiziente Auswertung auch zu einer neuen Codierung der Welt. Ein Neomythos der Populärkultur ist entstanden: kommerziell erfolgreich, spektakulär inszeniert, philosophisch anregend und zur ewigen Wiederkehr verdammt. Autor: Charles Martig Charles Martig ist Medienwissenschafter, Filmpublizist und Geschäftsführer Katholischer Mediendienst Links:
Grüne Zeichenreihen gleiten vertikal über den Bildschirm und sind die Metapher für eine Erlebniswelt geworden, die in einer totalitären Simulation kulminiert. Die Matrix ist etwas, das man eigentlich nicht beschreiben kann. Man muss sie sehen, damit der Glaube an sie möglich ist - oder besser, damit das fundamentale Misstrauen ihr gegenüber wachsen kann. Ausgangspunkt ist das gespaltene Leben des Software-Spezialisten und Hackers Anderson (Keanu Reaves), der seine neue Identität als Neo in der Auseinandersetzung mit der Matrix entdeckt. Während es im ersten Film um die Geburt des Helden ging, steht im zweiten Teil sein Leben und im dritten Teil sein Tod und die mögliche Zerstörung Zions, der letzten Stadt der Menschheit im Erdinnern, im Mittelpunkt. Diese mythologische Struktur wird angereichert durch einen Genre-Mix, der transmediale Verknüpfungen einkalkuliert und auf eine Verschmelzung der Mediengattungen tendiert. Gleichzeitig geht es auch um einen Bilderdiskurs, der auf einer Doppelbewegung basiert: der permanente Aufbau bei gleichzeitiger Zerstörung von Bildern.Das Ende der binären Struktur
Verschmelzung von Film, Internet und Computergame
Animatrix - Erweiterung des Mythos
Simulation als Schnittstelle
Cyberpunk im Reich des Medienkommerzes
Quelle: www.medienheft.ch
- Sammlung der neun Animationsfilme: www.theanimatrix.de
- Offizielle Spielseite: www.enterthematrix.com
- Matrix Forum und Flash-Animation aus christlicher Sicht: www.matrix-forum.de
- Fanseite auf Deutsch: www.chwolf-matrix.de
- The Cyberpunk Project: : http://project.cyberpunk.ru
- Jesus in der Matrix
- Matrix – Der Glaube an das Unglaubliche
Datum: 14.06.2003