Die Botschaft an den Vergewaltiger

„Ich verzeihe dir“

„Toter Mann kommt!” In Pantoffeln, an Füssen und Händen gefesselt, schleppt sich Robert Willie, mehrfacher Mörder und Vergewaltiger, in die Todeszelle. Dort wird er durch eine Giftspritze hingerichtet.
Debbie Morris
Ich verzeihe dir

Diese Szene ist im Film „Dead Man Walking” zu sehen. Die wahre Geschichte konfrontierte Millionen Menschen mit Fragen wie: Ist die Todesstrafe zu rechtfertigen? Hilft sie Opfern, ihre Schmerzen zu überwinden und Gerechtigkeit zu empfangen? Vor allem: Hilft sie ihnen, den Frieden für ihre Seelen wiederzufinden?

Doch der Film erzählt nur einen kleinen Teil der Geschichte des „Dead Man Walking”. Denn Robert Willie hatte nicht nur ein Verbre­chen zu verantworten. Mit seinem Komplizen hatte er mehrere Mäd­chen und Frauen vergewaltigt und getötet. Sein letztes Opfer hat jedoch überlebt: Debbie Morris. Sie war eine der Hauptzeugen gegen Willie im letzten Prozess, in dem er zur Todesstrafe verurteilt wurde.

Die härteste Zeit

1980, Madisonville/Louisiana. An einem lauen Sommerabend an der Fluss­promenade wird die damals 16jährige Debbie mit ihrem Freund Mark von zwei Män­nern gekidnappt und mehrmals vergewaltigt. Wie durch ein Wunder überlebt sie. Die beiden Kidnapper, Robert Willie und Joseph Vaccaro, werden kurz darauf ge­fasst. Vaccaro bekommt lebenslänglich, Willie wird zur Todesstrafe verurteilt. Aber damit ist es nicht vorbei. Für Debbie Morris bricht nach dem Prozess die härteste Zeit an. Denn der Abschluss des Falles beendet nicht den Horror für die junge Frau. Niemand versteht sie so recht: „Es wird Zeit, dass du das alles hinter dir lässt und dein Leben weiterlebst!”, verlangen Freunde und Verwandte. Doch ihr „normales” Leben ist nicht wiederherzustellen: „Es hat sich ein für allemal verändert, es ist in Hunderttausende von Teilen zerfallen. Bevor ich nicht weiss, wie ich all die Teile wieder zusammensetzen kann, habe ich kein Leben, das ich weiterleben kann.”

„Ich vergebe ihm“

Panik überfällt Debbie Morris, wenn sie mit fremden Männern allein ist. Der gerichtliche Prozess ist zwar beendet, aber dafür tobt der innere umso mehr. An ih­rer alten Schule hält sie es nicht mehr aus und zieht in einen anderen Bundesstaat. Für kurze Zeit gerät sie in Alkoholprobleme, schafft es aber, davon loszukommen. Ihr Freund Chris hilft ihr. Mit ihm kann sie über ihre Gefühle sprechen. Robert Willie vergeben? Bis zum Abend seiner Hinrichtung, dem 28. Dezember 1984, bringt Debbie solche Worte nicht über die Lippen. Dann liegt sie im Bett und betet: „Gott, bitte hilf mir, mit dem fertig zu werden, was auch immer heute Nacht passiert. Ich vergebe Robert Willie wirklich. Jedenfalls so gut ich kann.”

Wie konnte er das zulassen?

Obwohl sie mit diesem Gebet den ersten Meilenstein auf der Strasse der Heilung erreicht hat, findet die junge Frau kei­ne Ruhe. Sie fängt wieder an zu trinken. Ihre Beziehung mit Chris zerbricht. Debbie entscheidet sich für eine Entziehungs­kur. Dabei entdeckt sie, dass sie zwei weiteren Personen bisher nicht vergeben konnte: ihrer Mutter, weil auch die alkohol­abhängig war und sich kaum um sie gekümmert hat, als sie klein war. Und noch jemandem machte sie schwere Vorwürfe: Gott. Mit ihrer Mutter spricht sie offen über ihren Groll. Die ver­steht sie und bittet um Verzeihung, ein neuer Anfang ist ge­macht. Doch mit Gott wieder klarzukommen, fällt Debbie viel schwerer. Denn: Wie konnte er das bloss zulassen – schliesslich hatte sie ihm doch als Kind ihr Leben anvertraut?

Groll auf Gott

„Ich hatte ihm vertraut. Und dann hatte er mich hän­gen lassen. Okay, vielleicht hatte er mich gerettet und mir eine zweite Chance gegeben, aber was war mit all dem Schmerz und dem Unglück, das ich durchgemacht hatte? Wenn er mich wirklich und echt liebt, wie die Bibel behauptet, warum hat er mich dann all den Schmerz und das Leid durchstehen lassen? Natürlich war ich wütend! Warum hätte ich nicht wü­tend auf Gott sein sollen? Und irgendwann war ich dann mit einer problematischen Wahrheit konfrontiert: Es war mir leichter gefallen, Robert Willie zu vergeben, als meinen Groll Gott gegenüber loszulassen. Vielleicht lag das daran, dass ich der Meinung war, Gott müsse sich an einem höheren Massstab messen lassen. Oder vielleicht empfand ich auch noch zu viel Schmerz aus der Vergangenheit. Vielleicht war ich einfach zu frustriert über meine derzeitige Depression. Vielleicht hatte ich zuviel Angst davor, mich der Zukunft zu stellen. Was auch immer der Grund war, ich war nicht bereit oder in der Lage, meinen Zorn auf Gott loszulassen.”

Der gleiche Lohn

Ein paar Monate später hörte Debbie einen Text aus der Bibel aus Matthäus 20: „Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für sei­nen Weinberg einzustellen ...”. Er verspricht, sie am Ende des Tages alle gleich mit einem fairen Betrag zu entlohnen. Die Ar­beiter stimmten schnell zu. Aber als der Landbesitzer sah, wie viel Arbeit noch zu tun blieb, verstärkte er seine Arbeiter­schaft. Dann, als jeder dieser zuletzt eingestellten Arbeiter am Abend als Lohn einen Silbergroschen erhielt, erwarteten diejenigen, die schon seit dem frühen Morgen an der Arbeit waren, ei­nen höheren Lohn. Doch als sie ebenfalls einen Silbergroschen bekamen, fingen sie an, sich zu beklagen. Aber der Landbesitzer antwortete einem von ih­nen: „Mein Freund, ich tu dir nicht Un­recht. Bist du nicht mit mir einig gewor­den über einen Silbergroschen? Nimm was dein ist und geh! Ich will aber die­sem letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?”

Gnade für alle

Debbie war sofort klar, was diese Worte bedeuteten. „Die Gnade Gottes schliesst alle ein, die bereit sind, sie anzuneh­men, egal, was sie getan haben. Einmal angenommen, dass Robert Willie wirklich Busse getan und Gott vor seinem Tod um Vergebung ge­beten hat, dann ist das eine Sache zwischen ihm und Gott. Wenn Willie im Himmel ist, so wenig mir diese Vorstellung auch gefällt, dann muss ich die Tatsache akzeptieren, dass meine menschlichen Gefühle keine Rolle spie­len, wenn ich in den Himmel komme. Wenn Robert Willie dort ist, dann ist er genauso dahin gekommen wie ich - allein durch Gottes Grosszügigkeit und Gnade.“

„Ich weiss es genau: Es ist manchmal unglaublich schwer, zu vegeben! Ist Vergebung diese Mühe wert? Wie dringend ist unser Wunsch heil zu werden? Jahrelang war meinem Zaudern, zu vergeben, wie eine innere Dunkelheit, eine Barriere, die Liebe und Freude und so viele gute Dinge des Lebens einfach ausschloss. Vergebung heisst, dass dieses Hindernis zertrümmert wird ich wieder in der Lage bin, das Geben und Nehmen der Liebe zu erleben.“

Vergebung statt Gerechtigkeit

Oft wird Debbie gefragt: „Was denken Sie heute über die Todesstrafe? Sind Sie dafür oder dagegen?” Darauf antwortetet sie: „Ich habe in mir noch zwiespältige Gefühle. Ich habe die Vorstellung der Menschen von letztgültiger Gerechtigkeit gesehen, aber ich habe mehr Vertrauen in Gottes Vorstellung davon. Und selbst Gott scheint der Vergebung eine höhere Priorität zu geben als der Gerechtigkeit. Ob das heisst, dass Gott etwas gegen die Hinrichtung eines verurteilten Mörders wie Robert Willie gehabt hätte – ich weiss es nicht! Mit der Frage habe ich immer noch zu kämpfen. Aber eine weiss ich: Gerechtigkeit hat nichts zu meiner Heilung beigetragen. Das hat allein die Vergebung getan!

Anmerkungen:
Debbie Morris lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Louisiana (USA)
Morris D./Lewis G.: Ich war ein Opfer des Dead Man Walking
Debbie/Lewis, Gregg Morris: Hörbuch Opfer des Dead Man Walking

Autorinnen: Debbie Morris, Ines Weber

Datum: 30.10.2006
Quelle: Neues Leben

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