Messie-Syndrom

Auch Messies verdienen Respekt, Liebe und Geduld

Humorvoll und berührend gibt der Film «Ein schönes Chaos» Einblick in die Kreativität und Not von Messies und ihren Angehörigen. Christian Grossenbacher gewann damit den Berner Filmpreis 2011. Sich zu outen bedeutete für die Protagonisten Befreiung und Ausstieg aus der Scham. Seit anfangs März läuft der Film in den Kinos.
«Die grossen Drei»: Die Protagonisten Karl (links) und Thomas (rechts), in der Mitte der Filmregisseur Christian Grossenbacher.

«Wo gibt es ein Gesetz, das Ordnung vorschreibt?», fragt der Bauer Arthur provokativ eine Gruppe von Behördemitgliedern. Sie verlangen von ihm, sein Gelände von den in Wald und Wiese malerisch verteilten Traktoren, Baggern und anderen Fahrzeugen zu befreien. «Ich brauche diese Maschinen für meinen Betrieb!», erklärt der Tüftler. Dass er einen Traktor braucht, stellt niemand in Frage. Aber ob es gleich acht sein müssen? Auch Thomas lebt auf, wenn er auf dem Schrottplatz Nützliches sichtet. Die Antriebsmotörchen von Billettautomaten funktionieren noch tadellos. Die könnte man sicher nochmals verwenden. Irgendwann. Also nimmt er sie mit nach Hause. Der Architekt Karl stellt Laientheatern Requisiten und Bühnenbilder zur Verfügung, die er sammelt oder herstellt. Inzwischen füllen sie drei Scheunen?

Wie leben Angehörige damit? Sie leiden oft lange unter der Situation, bevor sie Schritte unternehmen. «Du hast immer mehr von unserem gemeinsamen Leben verdrängt», stellt Karls Frau Trudi im Film fest. «Wenn du so weitermachen willst, kannst du das tun. Aber ohne mich.» Nach fast 40 gemeinsamen Jahren trennt sie sich von ihrem Mann.

Ein echtes Phänomen

Das Messie-Syndrom wird definiert als Kombination verschiedener Faktoren. Dazu gehören frühkindliche Fehlentwicklungen, Suchtverhalten, das nicht an einen gewissen Stoff gebunden ist, Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Messies haben Mühe, Termine einzuhalten und leiden oft an weiteren Süchten wie etwa Kaufzwang.

Der Psychotherapeut Heinz Lippuner vertritt die Auffassung, dass Gegenstände die inneren Bestandteile der Seele der Messies symbolisieren. «Er kann sie deshalb nicht weggeben, weil er dann einen Teil seiner Seele verlieren würde. Materielle Dinge werden dafür eingesetzt, die Gefühlswelt zu stabilisieren.» Messies fühlen sich, als würde ihnen die Haut abgezogen, wenn ihr Material rigoros entsorgt wird. Sie halten es fast nicht aus. Oft schämen sie sich sehr, dass es ihnen nicht gelingt, Mass zu halten. Sie lassen niemanden in ihre Wohnung und drohen zu vereinsamen. «Vor etwa zehn Jahren war ich so verzweifelt, dass ich mir das Leben nehmen wollte», erklärt Elmira. «Aber das konnte ich meinem Sohn nicht antun.» Heute ist die Akademikerin froh darüber. Dank einer Selbsthilfegruppe geht es ihr psychisch viel besser. Die Wohnung hat sich zwar nicht gross verändert, denn Messies gelingen oft nur winzige Schrittchen der Verbesserung. Immer mehr von ihnen lernen, zu ihrer Eigenart zu stehen und sich nicht ständig zu schämen, zumal viele ihren Beruf problemlos ausüben können. Nicht alle möchten ihren masslosen Lebensstil hinter sich lassen. Aber sie sehnen sich nach Freunden, die sie so annehmen, wie sie sind.

Nächstenliebe als Motivation

Sandra Weiss hat sich den Film angesehen und erkannt, dass ihre Aufgabe als Messie-Coach genau zu ihr passt. «Ich habe Menschen gern, und ich sorge gerne für Ordnung», erklärt sie. Dass sie ihre Tatkraft und ihr Organisationstalent für andere einsetzen kann, freut die Ehefrau und Mutter von drei Teenagern. So kann sie das Gebot der Nächstenliebe umsetzen. Die 42-Jährige hat selber schon schwierige Lebensumstände bewältigt und steht deshalb gerne denen bei, die dabei Unterstützung brauchen. «Man muss Messies mit Respekt, Liebe und Geduld begegnen», erklärt sie. «Sie sind wie wir von Gott geliebte Menschen.» Dass es nicht jedem Klienten gelingt, langfristig Ordnung aufrecht zu erhalten, stresst sie nicht.

Nicht alle wollen

Aus einer Sucht auszusteigen ist schwierig, Rückschritte gehören dazu. Auch kann es passieren, dass Messies die Zusammenarbeit mit einer Home-Managerin nur dazu benutzen, Hausverwalter und Behörden hinzuhalten. Trotzdem eröffnen Selbsthilfegruppen, Psy­chotherapie, Seelsorge und die Hilfe von Haushalts-Profis die Chance, dass durch wachsende Beziehungen und Wertschätzung Messies ein bisschen besser lernen, mit der Materialflut umzugehen. «Aber nur, wenn sie es selber wirklich wollen. Sonst nützt alles Coaching nichts», sagt Sandra Weiss.

Link auf Film:
Messies - Ein schönes Chaos (Webseite zum Film)

Datum: 12.03.2012
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

Werbung
Livenet Service
Werbung