Grüne Auen und finstere Täler

Wenn der Hirte schweigt – und trotzdem bleibt

Ruedi Josuran
Es gibt Momente, in denen ein Psalm nicht tröstet, sondern herausfordert. Das hat Livenet-Mitarbeiter Ruedi Josuran im letzten Jahr ganz persönlich erlebt.

Psalm 23 klingt nach hellen Wiesen und sicheren Wegen. Aber der Psalm kennt auch den anderen Ort, das finstere Tal. Und manchmal führt das Leben einen dorthin, ohne Vorwarnung, ohne Wegbeschreibung. Dieses Jahr hat mich genau an diesen Rand geführt.

Ich musste meine Frau in eine Klinik bringen. Eine Fahrt, die sich anfühlte wie der Beginn eines Absturzes. Und als ich danach nach Hause zurückkehrte, geschah etwas, das ich so nicht kannte: ein langsames inneres Wegbrechen.

Der Himmel war weg

Nicht ein lautes Zerbrechen – eher ein lautloses. Ich wurde still. Zu still. Die Gefühle verschwanden zuerst. Dann der Antrieb. Dann der Glaube.

Ich war wie ausgeschaltet, funktionierte nur noch. Ich brachte nicht einmal die Kraft auf, jemanden anzurufen. Beten? Unmöglich. Der Himmel war nicht dunkel – er war einfach weg.

Der Hirte bleibt

Es war ein Tal, das keinen Namen trägt, nur Schwere.

Und dann – die leise Entdeckung: Er ist da. Mitten im Dunkel. Mitten in meiner Gefühllosigkeit. Mitten in meiner Unfähigkeit zu glauben.

Der Hirte. Jemand, der bleibt – auch wenn ich selbst nicht bleiben kann. Ein Hirte, der nicht erst auftaucht, wenn ich stark bin, sondern wenn alles in mir aussetzt. Eine Gegenwart, die sich nicht aufdrängt, aber auch nicht weicht. Still. Geduldig. Liebevoll.

Den Tisch gedeckt – wortwörtlich

Psalm 23 spricht davon, dass der Hirte «einen Tisch deckt». Früher fand ich dieses Bild poetisch. An jenem Abend wurde es brutal real. Ich hatte keine Kraft, einkaufen zu gehen. Ich hatte überhaupt keine Kraft – für nichts. Achtung: Es wird jetzt fast kitschig. Als ich spätabends heimkam, stand vor meiner Haustür eine vollgefüllte Einkaufstasche. Brot. Früchte. Dinge, die man zum Leben braucht. Kein Zettel. Keine Erklärung. Kein Name.

Ein Tisch im Dunkeln. Ein Zeichen, das niemand hätte planen können – ausser einer Liebe, die sieht, wenn wir es selbst nicht mehr können.

Ich weiss bis heute nicht, wer es war. Vielleicht war es ein Mensch. Vielleicht war es ein Engel in Alltagskleidung. Vielleicht beides.

Die eigentliche Entdeckung

Ich habe verstanden, dass der Hirte aus Psalm 23 keine Garantie für ein leichtes Leben ist. Er verspricht uns nicht, dass wir das Tal umgehen können.

Aber: Er geht mit. Auch wenn wir stehen bleiben. Er hält aus. Auch wenn wir innerlich aufgeben. Er liebt. Ohne Bedingungen.

Vielleicht ist das die tiefste Wahrheit von Psalm 23: Das Tal kann finster sein – aber wir sind darin nicht mehr allein.

Und manchmal stellt er uns dort sogar eine Einkaufstasche vor die Tür. Nicht spektakulär. Nicht heilig glänzend. Sondern menschlich. Nahe. Wie ein Hirte, der sich hinkniet und sagt: «Ich bin da. Auch jetzt. Gerade jetzt.»

Zum Thema:
Dossier: Vom Hirten und seinen Schafen

Datum: 20.12.2025
Autor: Ruedi Josuran
Quelle: Livenet

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