Um die Entwicklungen besser zu verstehen, haben Theologen und Religionswissenschaftler der Universitäten Zürich und Luzern das „Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik“ gegründet. Die Forschergemeinschaft führte von Donnerstag bis Samstag in Rüschlikon über dem Zürichsee ihre erste Tagung durch. Das Zentrum initiiert hat der Zürcher Alttestamentler Konrad Schmid unter dem Eindruck des 11. September 2001. Wie er betonte, soll es interdisziplinär funktionieren und auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Einflüsse auf die religiöse Entwicklung beleuchten. Der Göttinger Sozialethiker Reiner Anselm, derzeit Gastprofessor in der Limmatstadt und Leiter des Zentrums, befasste sich in seinem programmatischen Vortrag mit der Frage, ob angesichts der jüngsten Schlagzeilen „Staat und Politik nicht Distanz halten sollten zur verführerischen Kraft der Religion“. Erstaunen verursache vor allem „die Selbstverständlichkeit, mit der die Religion ihren Platz im öffentlichen Leben beansprucht“ – ihrer Verdrängung ins Private zum Trotz. Laut Anselm „kann gerade die Privatisierung der Religion in Kombination mit … gesellschaftlicher Pluralisierung zu einer gesteigerten Wirksamkeit der Religion führen“. Seit 1750 ist öffentliche Religion (welche früher das Glauben des Einzelnen bestimmte) durch Säkularisierung und Modernisierung zerfallen – „die Privatreligion findet nunmehr kein korrigierendes Gegenüber mehr“. Dies werde für das Gemeinwesen zum Problem, denn Religion lasse sich (anders als der einflussreiche Theologe Schleiermacher behauptete) nicht auf einen bestimmten Bereich im Gemüt festlegen. „Vielmehr weiss sich der in der Religion Gebundene in allen seinen Entscheidungen als abhängig von den Glaubensüberzeugungen, die seinem Denken und Handeln einen spezifischen Richtungssinn“ geben. Weil die öffentliche Religion diese Privatreligion (zunehmend auch im islamischen Raum) nicht mehr kontrollieren könne, spricht Anselm von einem „individualisierten Fundamentalismus, dem nur schwer beizukommen ist“. Er hat dabei namentlich „bestimmte Kreise des evangelikalen Christentums“ im Blick. Wenn über die staatliche Anerkennung jüdischer Gemeinden und muslimischer Gemeinschaften diskutiert werde, sei darin auch das Bemühen zu sehen, „eine Form der öffentlichen Religion zu etablieren – um die Privatreligion zu strukturieren und auch in ihre Grenzen zu weisen“. Reiner Anselm stellte die Frage, ob die säkulare öffentliche Enthaltsamkeit in Sachen Religion zukunftsfähig sei – „oder ob es nicht zu einer Weiterentwicklung der öffentlichen Religion für die Bedingungen der Gegenwart kommen müsste“. Das 2005 gegründete „Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik“, in dem Theologen, Religionswissenschaftler und weitere Dozenten der Universitäten Zürich, Luzern und Basel mitwirken, will zur Diskussion dieser Fragen und „zu einer neuen Form öffentlicher Religion“ beitragen. Dabei sollen, so Anselm, die beteiligten Akademiker sich bemühen, „durch persönliche Kontakte die fast selbst zum Ritual gewordenen Formen des Ausblendens von Religion aufzubrechen“. Ein neu einzurichtender Master-Studiengang ist darauf gerichtet, „Kompetenz für den öffentlichen Umgang mit Religion“ zu vermitteln. Projektbezogene Forschung soll ganz konkrete Fragen aus der Politik und Wirtschaft aufnehmen; so ist geplant, Islamic Banking zu untersuchen. Derzeit befasst sich das Zentrum mit der Ausbildung von Imamen an hiesigen Universitäten und mit dem islamischen Religionsunterricht. Zudem will man – wenn die Finanzierung gesichert ist – ein Forschungskolleg einrichten: International bekannte Fachleute sollen eingeladen werden, für einige Monate in Zürich zu forschen. Als Sponsor hat das Zentrum u.a. den Rückversicherungskonzern Swiss Re gewonnen; dieser stellt für die ersten drei Tagungen sein mondänes Schulungszentrum in Rüschlikon zur Verfügung. Zum Anfang der Eröffnungstagung hatte am Donnerstag Abend der pensionierte ETH-Professor für Sicherheitspolitik Kurt Spillmann zur Frage gesprochen, wann Religionen Konflikte erzeugen. Am Freitag Morgen untersuchte Michael Minkenberg (Frankfurt an der Oder) die Kartographie und Typologie religiöser Konflikte, worauf der Zürcher Ökonom Bruno S. Frey Zusammenhänge von Religion und Wirtschaft streifte. Der Freitag Nachmittag war den Debatten um Islam, (islamischen) Religionsunterricht in Österreich und Deutschland und das neue Zürcher Oberstufenfach Religionskunde gewidmet. Die Zürcher Bildungsdirektorin Regine Aeppli verteidigte das vorgesehene Obligatorium, indem sie auf das Ziel der Integration verwies. Am Samstag folgten drei Vorträge über Religion und Politik.„Verführerische Kraft der Religion“
Der Einzelne glaubt, was er will…
…und dies ohne ein Gefüge, das Grenzen setzt
Säkularität überdenken
Aus dem Elfenbeinturm treten
Islamische Gemeindevorsteher hier ausbilden?
Wann erzeugen Religionen Konflikte?
Wer macht welchen schulischen Religionsunterricht?
Datum: 23.02.2006
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch