Viele Jahre konnte ich nicht verstehen, warum Gott mir die Mutter weggenommen hat. Ich habe ihn verantwortlich gemacht, dass ich in diese Familienkonstellation hinein geboren wurde. Er war schuld an meinem schwierigen Lebensweg, auch an meinen Defiziten und Lasten, die ich zu tragen hatte. Ich war davon überzeugt, dass Gott mich ungerecht behandelt. Ich war innerlich zerrissen, unzufrieden mit mir und der Welt und in ständigem Protest gegen Gott, der für mein Schicksal verantwortlich war. Viele lange Gespräche mit einem entfernt verwandten Seelsorger haben mir dann geholfen. Ich konnte Gott vergeben, dass er mir diesen Lebensweg zugemutet hat. Seither bin ich wie befreit. Ich kann wieder atmen und habe erstmals wirklich Freude am Leben. Ich habe mich für die Menschen um mich herum geöffnet, auch für ihre Fragen, Sorgen und Probleme, die ich jetzt besser verstehen kann.“ Der Mann hat mich beeindruckt. Die Ohnmacht gegenüber dem als ungerecht empfundenen Gott hielt ihn in einer Art seelischer Erstarrung gefangen. Sie führte ihn dazu, sich dem wirklichen Leben zu verweigern. Erst als er die Verantwortung für sein Verhalten auf den frühen Tod seiner Mutter selber übernahm, begann sich seine seelische Verkrampfung zu lösen. Es folgte ein langwieriger Prozess über Monate, bis er Gott und auch sich selber vergeben konnte. Vielleicht haben auch wir Umstände oder Situationen in unserm Leben, die wir Gott - mehr oder weniger bewusst - nicht vergeben haben? Vielleicht fühlen auch wir uns immer wieder ungerecht behandelt vom Leben, vom Schicksal, von Gott? Guter und treuer Gott. - schenke uns deinen Geist der Versöhnung und gib uns die Kraft, dir zu vergeben, dass du uns gerade diesen Lebensweg zugemutet hast.
Datum: 03.07.2004
Autor: Roman Angst
Quelle: Bahnhofkirche Zürich