(Glaubens-)Freiheit und Gleichheit unter Integrationsstress

Im Staat, der Fremde integrieren will, ohne sie zur Assimilation zu drängen, stellen sich zahlreiche rechtliche Probleme, die mit Religion zu tun haben. Ihnen widmete sich am 4. September eine Fachtagung des Instituts für Religionsrecht an der Uni Freiburg im Üechtland. Zur Sprache kamen auch die Scharia, Frauenrechte und das Minarettverbot.
Wie können Fremde integriert werden?
Integration nicht gesetzlich definiert: Martina Caroni.
Interdisziplinär: Der Soziologe Jörg Stolz (links) und René Pahud de Mortanges, Leiter des Freiburger Instituts für Religionsrecht.
Recht auf Privatleben im Konflikt mit Traditionen: Judith Wyttenbach.
Andreas Kley

Integration ist im Schweizer Recht nicht definiert; der Begriff schillert. Denn Integration wird nicht nur als Prozess der Eingliederung von Migranten in das bestehende Gemeinwesen verstanden, sondern auch als Ziel: mit den Zuwandernden ein neues Ganzes zu gestalten. Martina Caroni, Professorin an der Uni Luzern, zeigte im einleitenden Vortrag den grossen Ermessensspielraum der Behörden auf, die für eine Aufenthaltsbewilligung den „Grad der Integration" berücksichtigen. Jeder Kanton habe seine eigenen Vorstellungen.

„Inneren Zusammenhalt fördern"

Laut der Bundesverfassung fördert die Eidgenossenschaft „den inneren Zusammenhalt des Landes". Da der Staat auf die Zustimmung seiner Angehörigen angewiesen ist, habe er sich „um die fortwährende Integration aller gesellschaftlichen Gruppen" zu bemühen. Den zuwandernden Ausländern soll nach der Verordnung des Bundes die „chancengleiche Teilhabe" zukommen. Religionsgemeinschaften seien für die Integration von grösster Bedeutung, hielt Caroni fest. Der Staat, der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert, könne mit jenen Zugewanderten zusammenarbeiten, die seine Grundwerte mittragen.

Diskriminierung statt Integration

Der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz unterschied fünf Dimensionen der Integration: kulturell, strukturell, rechtlich, Interaktion und Identifikation. Umfragen zeigen, dass muslimische Gesellschaften sich von westlichen in ihren Ansichten zu Geschlechterfragen, Stellung der Frau, Abtreibung und Homosexualität unterscheiden. Das Mass an Integration lesen Sozialwissenschaftler unter anderem an erlebter und empfundener Diskriminierung ab. Muslime und Hindus hätten Mühe, Räumlichkeiten zu finden, sagte Jörg Stolz. Fast 20 Prozent der evangelikalen und gegen 40 Prozent der jüdischen Gemeinden gäben an, dass manche ihrer Mitglieder aus religiösen Gründen diskriminiert würden. Gegenüber starken und eindeutigen religiösen Ueberzeugungen nehme die gesellschaftliche Toleranz ab.

Hürden abbauen

Werte können Religionsgemeinschaften (Zeugen Jehovas) an der Integration hindern. Andererseits sollten Staat und Gesellschaft auf Regelungen und Akzente verzichten, welche die Integration von Eingliedungswilligen erschweren oder unmöglich machen; Stolz nannte in diesem Zusammenhang das Verbot des Minarettbaus. Für den Sozialwissenschaftler ist klar: „Der Staat muss strukturelle Hürden abbauen, damit Integration über Generationen gelingt." Die säkulare Schweiz sei noch religiöser als andere westliche Länder; weltweit spiele Religion eine ungleich wichtigere Rolle als in Mitteleuropa.

Scharia in Europa?

Die Freiburger Fachtagung bot kein Referat zur Scharia, dem (nicht kodifizierten) islamischen Recht, doch wurden diverse Reibungs- und Streitpunkte angesprochen. Andrea Büchler, Professorin für Privatrecht an der Uni Zürich, setzte mit der Frage ein, ob das islamische Recht in Europa Einzug halte. „Manche Muslime machen geltend, sie seien verpflichtet, ihr Familienleben nach den Vorgaben der Scharia zu organisieren, namentlich in England." Alle Seiten fühlten sich bedroht; der Westen sehe seine Errungenschaften in Gefahr.

Einheitliches Recht flexibel handhaben

Büchler plädierte für „ein einheitliches Recht, das Diversität anspricht und Parallelgesellschaften abwendet". Bemühungen auf materielle Gleichheit müssten auf verschiedenen Ebenen stattfinden, nicht nur auf der rechtlichen. „Menschenrechte können bedeutungsvoll und produktiv mit verschiedenen Traditionen verbunden werden." Die Rechtsprofessorin hielt fest, dass das Schweizer Recht christlich geprägt sei. Sie plädierte insgesamt dafür, die europäischen Familienrechtsordnungen auf Wesentliches zurückzuführen: den Ausgleich von Leistungen zu gewährleisten und Kinder und Schwächere zu schützen. Alternative Scheidungsformeln oder Formen der Eheschliessung seien zu überlegen.

Andrea Büchler zu Gleichheitsverständnissen und Familienstreitigkeiten

Ausgedehntes Recht auf Privatleben

Am Nachmittag wurden fünf weitere Kurzvorträge gehalten. Judith Wyttenbach, Lehrbeauftragte an der Uni Bern und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, betonte, das Recht auf Privatleben habe die Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten ganz entscheidend beeinflusst. Sie erwähnte die operative Geschlechtsumwandlung, die heute drin liegt. Voreheliche und aussereheliche sexuelle Beziehungen kümmerten den Staat nicht mehr, und bei der Scheidung werde die Schuldfrage nicht mehr gestellt.

Freiheit zur Selbstverstümmelung?

Zwischen den Freiheiten, die der Staat garantiert, und den Gebräuchen und Regeln mancher religiöser Gemeinschaften gibt es jedoch manche Kontraste. Die Kommission für Frauenfragen bezeichnete im Mai die Genitalverstümmelung an Frauen (FGM) als „schwere Menschenrechtsverletzung" und begrüsste einen entsprechenden Strafrechtsartikel. Doch stellten sich „heikle Fragen", wenn erwachsene urteilsfähige Frauen in FGM einwilligen. In Westeuropa, so Wyttenbach, wünschen zahlreiche Frauen eine operative Schamlippenverkleinerung aus kosmetischen Gründen...

Vernehmlassungsantwort der Frauenkommission zu FGM

Zwang in der Schule

Was müssen andersreligiöse Kinder in der staatlichen Schule mitmachen? Der Kirchenrechtler Christoph Winzeler (Uni Fribourg) kam nach einem Durchgang durch Gerichtsurteile (Kopftuch, Schwimmunterricht) zum Schluss, die Abwägung von Obligatorium und Religionsfreiheit sei nicht ein für allemal möglich, sondern müsse im einzelnen Fall erfolgen. Lösungen auf der Basis von Gesprächen seien langen Gerichtsverfahren vorzuziehen.

Neue Zürcher Richtlinien: Muslimische Schüler an der Volksschule

Vertrautheit und Einbürgerung

Der Kirchenrechtler Christian Tappenbeck referierte über die Einbürgerung von andersreligiösen Menschen. Wenn die Vertrautheit mit den „schweizerischen Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen" gefordert werde, habe der Staat doch im Verfahren die religiöse Neutralität zu wahren. Wer sich einbürgern lassen will, von dem ist „eine Übereinstimmung mit den Grundlagen der schweizerischen föderalen Wertegemeinschaft" zu erwarten. Dazu gehört die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Tappenbeck verwies auf das Bundesgericht, welches festgehalten hat, dass das religiös bedingte Tragen eines Kopftuchs allein noch nicht als Ausdruck einer Haltung der Unterwerfung zu sehen ist. Prof. Erwin Murer (Uni Fribourg) befand, die Integration der Muslime in der Arbeitswelt stelle wenig rechtliche Probleme. Allenfalls könne die Teilnahme am Freitagsgebet besser öffentlich-rechtlich geregelt werden.

Ideelle Immission: nicht im öffentlichen Raum

Prof. Andreas Kley referierte über religiöse Symbole im öffentlichen Raum. Der Zürcher Staatsrechtler schrieb religiösen Vorstellungen die Eigenschaft zu, „dass sie die Menschen in ihren Bann ziehen". Symbole könnten „nicht nebeneinander bestehen, wenn sich die Anhänger nicht der Toleranz befleissigen". Die Verflachung des religiösen Lebens in Europa habe zur friedlichen Koexistenz der Religionen beigetragen. Kley sprach sich gegen eine Ausdehnung des Begriffs der ‚ideellen Immission‘, der aus dem Nachbarrecht stamme, auf den öffentlichen Raum aus. „Sonst beschränkt sie die Freiheiten religiöser Minderheiten. Laut der Bundesverfassung (Art. 35,3) dürfe das Symbol einer Glaubensgemeinschaft nicht als ideelle Immission gewertet werden.

Verbot als Bumerang

Mit Bezug zur Minarettverbotsinitiative hob Kley hervor, religiöse Symbole verwiesen „auf das Unbedingte, aber auch Ungreifbare". Dem sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand entspreche ein geistiges Gegenstück. „Geht eine Gesetzgebung daran, einen Teil dieses Sinnzusammenhangs zu unterdrücken, dann folgt nicht, dass mit dem Symbol das Symbolisierte verbannt ist. Dieses tritt vielmehr an seine Stelle." Kampf, Unterdrückung und Märtyrer seien die Folge. „Symbole lassen sich nicht mit Gesetzen und Willensakten bekämpfen." Wenn das Symbol nicht sein dürfe, beweise das Verbot gerade die Kraft der Glaubensvorstellung und wirke als Bumerang.

Was ist kulturell, was religiös bedingt?

Das Schlusswort hatte der Religionswissenschaftler Prof. Christoph Bochinger, Leiter des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58, das die Tagung mitveranstaltete. Er erinnerte daran, dass die Pluralisierung auch nicht-religiöse Weltanschauungen einschliesst. „Auch mit diesen Leuten müssen wir uns beschäftigen." Man müsse Prägungen durch kulturelle Konventionen von religiösen Gegebenheiten unterscheiden. „Wo dient Religion als Sammelbegriff für Fremdheiten unterschiedlicher Art?"

Laut Bochinger gilt es, „ganz genau hinzusehen, welche Rolle Religion in Integrationsprozessen spielt". Die meisten Probleme könnten mit den normalen rechtlichen Mitteln, die in säkularen Angelegenheiten gelten, angesprochen werden. Für die Güterabwägung seien Juristen gefragt.

Webseite des Freiburger Instituts für Religionsrecht 

Datum: 10.09.2009
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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