Jeden Tag neuen Mut

Wo Angst leiser wird und Vertrauen wächst

Während in ihrer Heimat Krieg herrscht, müssen sich Flüchtende in der Fremde zurecht finden
Sie sind auf der Flucht, haben ihre Heimat und Familien hinter sich gelassen – doch inmitten von Verlust, Traumata und Unsicherheit entdecken junge Frauen im Mittelmeerraum Gemeinschaft, Hoffnung und Würde.

Wir halten uns die Hände und gehen vorsichtig Schritt für Schritt ins Wasser. «Tief einatmen», ermutige ich die junge Frau. Die Wellen sind ruhig, die Sonne scheint, 35 Grad wie jeden Tag. Weiter draussen im Wasser sind einige andere Mädchen und rufen ihr zu: «Komm! Du schaffst das!» Sie tollen herum, spritzen sich an und schauen, wer länger die Luft anhalten kann. Wir gehen weiter, Schritt für Schritt, die junge Frau hält bei jeder Welle die Luft an. Das letzte Mal, als sie im Wasser war, war, als sie mit einem Gummiboot über das Meer geflüchtet ist. Heute, nach Monaten, traut sie sich zum ersten Mal zurück ins kühle Nass. Beim Weg ins Wasser erzählt sie mir, dass das Wasser damals eiskalt war, dass sie eineinhalb Tage ohne Essen waren und dass sie Angst um ihren kleinen Bruder hatte.

Als sie bei den anderen Mädchen ankommt, wird geklatscht und gejubelt. Sie lässt meine Hand keine Sekunde los. Ich schaue sie an und sage: «Ich bin stolz auf dich!» Doch nicht nur auf sie, sondern auf jede einzelne der jungen Frauen, die hier mit uns im Wasser ist. Die sich trotz traumatischer Geschichten und unklarer Zukunft entschieden haben, heute aus dem Sumpf ihrer herausfordernden Situationen rauszugehen und sich dem Leben zu stellen.

Ein Stück Weg gemeinsam gehen

Als wir nach dem Schwimmen in einem Kreis am Ufer sitzen und ein Fragespiel spielen, zieht eines der Mädchen die Frage: «Erzähl uns von etwas Schönem.» Sie überlegt einige Sekunden und sagt: «Als ich auf der Flucht war, mussten wir eine Bergkette überwinden. Es war sehr schwierig und ich war noch so jung. An einem Abend habe ich in der Nacht in den Himmel geschaut. Ich habe die Sterne gesehen, die breit und klar am Himmel standen. Da habe ich gedacht: Wie seltsam, dass in so einer schwierigen Situation so etwas Schönes existieren kann. Daran denke ich noch heute oft. Wie speziell, dass in derselben Zeit Gutes und Schlechtes existieren.» Die Mädchen nicken ihr zu und weiter geht’s mit der nächsten Frage. Am Abend liege ich im Bett und denke über die Worte und Geschichten nach. Ich fühle mich geehrt, mit diesen jungen Frauen ein Stück Weg zu gehen.

Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Während in ihrer Heimat Krieg herrscht, Mädchen nicht mehr zur Schule gehen dürfen und ihre Häuser dem Erdboden gleich gemacht wurden, sind sie hier und versuchen sich trotz Trauer, Schock und grossen Fragen dem Leben zu stellen. Sie gehören zu den zehntausenden Menschen, die dieses Jahr hier angekommen sind und einen Asylantrag stellten. In unserem Programm versuchen wir durch Kunst, Aktivitäten und Sport jungen, geflüchteten Frauen einen Raum zu geben, wo sie sich sicher fühlen und Gemeinschaft erleben können. Regelmässig besuchen wir die Flüchtlingslager oder treffen die geflüchteten Mädchen in der Stadt. Glücklicherweise werden ihre Grundbedürfnisse meist durch staatliche Hilfe abgedeckt, doch sie sehnen sich nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Viele haben ihre Familien und ihre Heimat zurückgelassen und befinden sich irgendwo an einem unbekannten Ort, den sie nicht ausgewählt haben. Wir versuchen, mit ihnen Freundschaften aufzubauen und Familie zu leben. Das kann heissen, Geburtstag zu feiern, die Mädchen in der Schule oder bei der Arbeit zu besuchen, zu zeigen, dass sie hier nicht allein, sondern Teil einer Gemeinschaft sind. «Du hast einen Namen, eine Geschichte und eine Stimme», erinnern wir sie.

Ein anderes Bild vom Reich Gottes

Mit unseren Worten und Taten möchten wir ihnen das Reich Gottes vorleben. Ich habe mir das Kommen des Reichs Gottes zuvor immer so endzeitlich vorgestellt: Posaunen, Engel und Gottes Gericht. Doch was, wenn Gottes Reich ganz leise und unauffällig kommt? Was, wenn es unter anderem die kleinen, wichtigen Entscheidungen sind, Gott treu zu sein, die Schritte auf unseren Nächsten zu machen oder die Zunge im Zaum zu halten? Dem Mühsamen zuzuhören, Nächte durchzumachen für Junge und Ältere, oder zu teilen. Die Idee fasziniert mich und ich bete, dass Gottes Reich so kommt, wie er es sich wünscht.

Mit den jungen Frauen zu arbeiten, sie zu kennen und von ihnen zu lernen, erfüllt mein Herz mit Dankbarkeit und Freude. Ich kann ihre Situationen nicht stark verändern, aber ich kann mit ihnen sein, ihnen Würde und Identität zusprechen. Und dafür schlägt mein Herz.

Simona (Name geändert) ist mit der SMG in unterschiedlichen Ländern im Mittelmeerraum aktiv. Ihre Identität und Einsatzorte werden nicht veröffentlicht. Dieser Artikel erschien im Magazin der SMG Making Mission Possible.

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Datum: 02.12.2025
Autor: Simona (Name geändert)
Quelle: SMG Making Mission Possible

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