Die Herausforderung KI

«Die Chance für Christen ist so gross wie lange nicht mehr»

Thilo Stadelmann, Professor für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen
Thilo Stadelmann, Professor für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen, plädiert in einem Beitrag vom SEA Fokus für eine angstfreie Herangehensweise an die neue Technologie. Christen sollten die Möglichkeiten der KI für ihre Aufgaben nutzen.

Für welche Aufgaben nutzen Sie persönlich KI – und wofür nicht?
Thilo Stadelmann: Das geht vom Rasenmähroboter über das Navi im Auto bis zum Brainstormen, Finden von Titeln für Forschungsartikel oder Kürzen von Texten mithilfe generativer KI. Zwar übernehme ich kaum je eins zu eins, was sie mir vorschlägt, aber sie liefert hilfreiche Ideen. Ebenfalls ausprobiert habe ich standardisierte Antworten auf E-Mails, empfand das aber als nicht zufriedenstellend: Mir ist meine eigene Wortwahl doch wichtig, wenn mein Name darunter steht.

Was sind die grössten Chancen durch den zunehmenden Einsatz von KI in der Arbeitswelt?
KI ist eine so vielfältige Technologie, dass sie sich an breiter Front nutzbringend einsetzen lässt. Die Frage ist, wo sich der Aufwand für die Entwicklung lohnt. Besonders im Umgang mit Text können KI-Tools sehr hilfreich sein und unsere kreativen Prozesse unterstützen, da sie eine andere Stärke mitbringen als wir Menschen: Sie haben quasi sämtlichen Text verarbeitet, den die Menschheit je geschrieben und digitalisiert verfügbar gemacht hat. Das ermöglicht es, eine enorme Vielfalt an Perspektiven und Gedanken einzubeziehen – als würden wir mit einer Million Experten gleichzeitig sprechen. Der Text, den die KI liefert, wird jedoch qualitativ mittelmässig sein und bleiben, das ist methodisch bedingt.

Können Sie diesen Nutzen anhand eines Beispiels illustrieren?
Im Gesundheitswesen fallen neben der eigentlichen Arbeit mit und am Menschen viele administrative Aufgaben an. Für die Dokumentation etwa braucht es keine von Menschen brillant verfassten Texte, da genügt es nüchtern festzuhalten, was getan wurde.

Was sind demgegenüber die Risiken beim Einsatz von KI?
Die wesentlichen Risiken liegen auf der Seite des Menschen: Wenn wir die Technologie nicht verstehen und deshalb meinen, sie sei so etwas wie wir, nur unbegrenzter, dann geben wir zu viel Verantwortung an die Maschine ab. Wir sehen, dass sie in einem Bereich – im Umgang mit Text – ziemlich gut ist, und schliessen fälschlicherweise daraus, dass sie in allem anderen gut ist. Sie ist aber zum Beispiel total schlecht darin, etwas tief zu durchdenken und über textuell beschriebene Erfahrungen hinaus Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Sie versucht dies zu simulieren, tut das jedoch mit Textstatistik. Deshalb kann alles, was sie ausgibt, falsch sein. Eine zweite Gefahr ist unser Hang zur Bequemlichkeit. Wenn wir alles, was möglich ist, an die Maschine delegieren, verpassen wir Gelegenheiten zum persönlichen Wachstum und auch zur Aneignung von Kompetenz im Umgang mit diesem mächtigen Werkzeug.

Wie beurteilen Sie das Szenario, dass durch KI viele Menschen ihre Arbeit verlieren?
Auch das basiert in meinen Augen auf dem falschen Verständnis, KI könne alles machen, was wir Menschen tun. Man stelle sich vor, wie limitiert wir wären, wenn alles, was wir über die Welt wahrnehmen, aus Texten stammen würde, die wir im Internet gelesen haben. Warum gehen wir also davon aus, dass ein genau so funktionierendes System fit genug ist zu tun, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienen? Trotzdem kann es uns in verschiedenen Prozessen behilflich sein. Für viele Aufgaben wird es daher wichtig, KI in die Arbeitsabläufe zu integrieren. Und das wiederum verändert die Rollen und Aufgaben des Menschen. Aber der Gedanke, dass KI uns ersetzen könnte, fusst nicht auf technischer Realität. In den allermeisten Jobs liefern Menschen gegenüber KI einen extremen Mehrwert, auch wenn KI in einzelnen Aufgaben überlegen ist. Die Kombination aus beidem ist die Zukunft.

Was braucht der Mensch, um im Zeitalter von KI in der Arbeitswelt zu bestehen?
Der Mensch braucht zuallererst Identität: Er muss sich seines eigenen Wertes, seiner Würde und Einzigartigkeit bewusst sein. Wer versteht, dass er mehr ist und kann, als Informationen zu verarbeiten, muss sich von KI nicht eingeschüchtert fühlen. Denn diese ist nichts anderes als eine Simulation der menschlichen Informationsverarbeitung. Hier haben Christen eine grosse Chance wie schon lange nicht mehr: Dank ihrer weltanschaulichen Überzeugungen und Sicht auf den Menschen können sie KI nüchtern als ein Werkzeug betrachten, das für Gutes wie für Schlechtes verwendet werden kann. Sie haben einen wichtigen Beitrag zu leisten, die Entwicklung in eine gute Richtung mitzugestalten. Wenn sie die Entwicklung hingegen verteufeln, verpassen sie diese Gelegenheit. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte. KI ist gekommen, um zu bleiben. Deshalb sollte man sich damit auseinandersetzen.

Wie sollen Kirchen und Organisationen konkret mit KI umgehen?
Angstfrei, besonnen und entschlossen: Viele Ängste im Zusammenhang mit KI sind unbegründet, denn sie basieren auf teils fragwürdiger Weltanschauung, und sollten entkräftet werden. Ja, die Entwicklung bringt grosse Veränderungen mit sich und macht etwas mit uns Menschen und der Gesellschaft. Deshalb gilt es zweitens besonnen damit umzugehen: Christen sollten sich fragen, wie sie dieses Werkzeug nutzen können, um ihren Auftrag zu erfüllen. Ich denk etwa an Übersetzungssysteme, um den Gottesdienst für Fremdsprachige zugänglich zu machen. Besonnen heisst aber auch, darüber nachzudenken, wie diese Systeme ausgestaltet werden müssen, damit sie uns nicht ungewollt manipulieren. Drittens sollten sie sich entschlossen einbringen – denn genau das tun diejenigen, welche die KI-Entwicklung aus Profitgründen vorantreiben.

Die Kirche kann also im grossen KI-Wettrüsten entscheidend Einfluss nehmen?
Vor Jahrhunderten sind Bildungseinrichtungen, Krankenhäuser und weitere Institutionen, welche die Welt geprägt haben, aus kirchlichen Kreisen entstanden. In letzter Zeit hat sich die Kirche vom Machen verabschiedet und darauf verlegt, andere zu kritisieren, die etwas schaffen wollen. Man sollte sich mit einem Trend beschäftigen und ihn prägen – statt ihn nur zu betrachten. Alles andere ist eine Missachtung der eigenen Verantwortung.

Dieser Artikel erschien im Magazin SEA Fokus der Schweizerischen Evangelischen Allianz, das sich mit dem Thema der Künstlichen Intelligenz beschäftigt.

Zum Thema:
Prof. Dr. Thilo Stadelmann: Künstliche Intelligenz – warum so viel Angst? 
Politlunch der Ev. Allianz Thun: Künstliche Intelligenz: Segen oder Schreckgespenst? 
Talk mit Tobias Kley: Christen dürfen KI nicht verschlafen 

Datum: 02.08.2025
Autor: Daniela Baumann
Quelle: SEA Fokus

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