Lebensmüde

Schlaflose Nächte und Einsamkeit waren nicht das Letzte …

Sie hätte nicht gedacht, dass sie über 20 Jahre alt würde. Der Verlust der älteren Schwester Einsamkeit und Überforderung brachten Ruth an die Grenzen ihrer Lebenskraft. – Heute führt sie ihr Leben in neuer Qualität und mit einer Perspektive.
Ruth Bähler

Es ist sechs Uhr; der Wecker klingelt. Die Enttäuschung ist gross. „Wieder bin ich aufgewacht, ich lebe immer noch. Der Kampf beginnt von neuem.“ – Diese Enttäuschung wiederholte sich jeden Morgen. „Mein Gott, wie lange noch lässt Du zu, dass ich am Leben bleibe? Du weisst doch, dass ich das fast nicht mehr aushalte und viel lieber sterben würde!“

Etwa seit dem 13. Lebensjahr hatten sich bei mir massive Schlafstörungen eingestellt, die sich über Jahre hinzogen. Zur gleichen Zeit hatte ich den Entschluss gefasst, endlich einige Kilo abzunehmen. Denn manchmal war ich in der Schule – besonders im Turnen – wegen meines Gewichts kritisiert und abgelehnt worden. Das hing aber auch mit einem weiteren traumatischen Ereignis zusammen.

Einsam in der Grossfamilie

Aufgewachsen bin ich zusammen mit meinen Eltern und sechs älteren Geschwistern auf einem kleinen Bauernhof. Neben vielen schönen und auch lustigen Seiten des Lebens wurde ich schon ziemlich früh mit schwierigen und für die Familie sehr belastenden Situationen konfrontiert.

Ausserhalb meiner Familie hatte ich als Kind nicht viele Kontakte, und auch in der christlichen Gemeinde, die wir als Familie besuchten, hatte ich nur sehr wenige Menschen, die mir wirklich nahestanden und zu denen ich Vertrauen hatte. So war es für mich ein sehr grosser Verlust, als meine zwei Jahre ältere Schwester mit 15 auf dem Schulweg überfahren wurde.

Jeder von meinen Eltern und Geschwister schlug einen eigenen Weg ein, um diesen Schmerz zu verarbeiten. Das führte zu gegenseitigem Unverständnis und somit zu neuen Verletzungen. Ich kann mich gut erinnern, dass ich selber häufig vor lauter Angst mitten in der Nacht aufwachte. Schlechte Träume in kurzen Abständen liessen die Nächte zur Qual werden.

Bedrängende Nächte

Auch ich probierte diesen Gedanken möglichst auszuweichen. Lernen und intensiver Einsatz in der Schule sollten mich ablenken. Ich bemühte mich, jede freie Minute restlos auszufüllen. Mit dem Hund, den ich kurz nach dem Tod meiner Schwester erhielt, war ich regelmässig unterwegs.

Nachts jedoch konnte ich dem Schmerz über den Tod meiner Schwester nicht länger davonlaufen. Eine Traurigkeit und Leere drohten mich zu ersticken. Niemand ahnte, was in mir vorging. Es gab während dieser Zeit kaum einen Menschen, dem ich ganz vertraut hätte. Überall zog ich mich zurück und merkte selber lange nicht, wie einsam ich dadurch wurde.

Schon nach kurzer Zeit war ich nicht mehr übergewichtig; im Gegenteil: Jetzt fehlte mir jeglicher Appetit. Das Essen wurde zur Last. Es war, als ob mein Körper abrupt aufgehört hätte, sich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Magersucht war in unserer Familie schon lange ein Thema, und jetzt hatte ich das Gefühl, ich würde einfach unter diese Überschrift eingeordnet und nicht mehr ernst genommen.

Alles Beten war vergeblich

Gleich nach der Schule zog ich von daheim aus. Die folgende Zeit war geprägt von Tausenden von Fragen und dem Suchen nach Antworten, auch auf die Frage nach dem Wozu des Lebens. Ich wusste und glaubte, dass Jesus mich liebte. Ich hielt daran fest und verbrachte viel Zeit mit Bibellesen. Auf stundenlangen Spaziergängen betete ich zu ihm. Aber all dieses Wissen und Festhalten lösten in mir nicht diese Freiheit und Befreiung aus, nach der ich mich sehnte.

Einen Freundeskreis aufzubauen, dazu fehlte mir die Kraft. Auch in einer Gemeinde wusste ich nicht, wo ich mich hätte einbringen können. Ich war heimatlos, nirgendwo ganz zu Hause, anders als alle anderen. Diese schweren Gedanken begleiteten mich in dieser Zeit.

An den Grenzen angekommen

Ich trat eine Stelle in einem Büro an und nahm mir eine eigene kleine Wohnung. Doch da zeigte sich, dass ich mit all dem Neuen und mit mir selber völlig überfordert war. Die Schlafstörungen wurden so intensiv, dass ich kaum mehr leben konnte.

Der tiefe Wunsch, endlich aus dieser Welt gehen zu können, war stärker als je zuvor; weg von dem tiefen Schmerz, von der Angst vor dem neuen Verlust eines lieben Menschen, weg von der ganzen Überforderung und der Angst zu versagen. Von Herzen sehnte ich mich danach, endlich bei Jesus zu sein, der mich – im Gegensatz zu den Menschen – vollkommen verstehen konnte.

Mir fehlte jede Perspektive für mein Leben. Es gab jetzt nichts mehr, das mir in meinem Schmerz, in der grossen Einsamkeit und der Überforderung einen neuen Sinn gegeben hätte. Angst und Schmerz trieben mich ganz an meine Grenzen.

Anders als alle andern?

Die Nächte in dieser Zeit waren lang. Oft wachte ich von meinem eigenen Schreien auf und lag dann stundenlang wach. Manchmal kam der Schlaf erst gegen 4 oder 5 Uhr morgens. Es war für mich keine Seltenheit, den Tag nach nur zwei Stunden Schlaf durchzustehen; manchmal sogar ohne einer einzigen Stunde.

Ich hätte meinem Leben selber ein Ende setzen können. Doch das kam für mich nicht infrage, da ich in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen bin. Der Arzt, den ich zu dieser Zeit aufsuchte, verordnete mir Schlafmittel und empfahl mir einen Therapieaufenthalt. Diesen Rat nahm ich an und trat in eine sozialtherapeutische Wohngemeinschaft ein.

Dort setzte ich mich noch einmal mit dem Tod meiner Schwester auseinander und erreichte bald wieder mein Normalgewicht. Nach rund sieben Jahren konnte ich auch endlich wieder normal schlafen. Im Zusammenleben mit den Mitbewohnerinnen erkannte ich, dass viele unter der gleichen Isolation und Einsamkeit und unter ganz ähnlichen Gefühlen des Unverstandenseins litten wie ich selber. Sie hatten darauf ganz unterschiedlich reagiert.

Das Herz blieb unberührt

Während dieser Therapie fand ich wieder zu Stabilität und festem Boden. Der Weg einer befreienden Heilung begann allerdings erst später, denn ich absolvierte die Therapie vor allem mit meinem Verstand. Das Herz kam erst Schritt für Schritt nach.

Ähnlich wie die Therapie selber war es während dieser Zeit mit dem Glauben. Auch ihn lebte ich fast nur noch verstandesmässig. Ich hatte das Gefühl, mir fehle die Kraft zum Beten. Ich legte meine Bibel auf die Seite und klagte Gott innerlich an. Wenn ich an Gleichaltrige dachte, die langsam auf ihrer Karriereleiter emporstiegen, ihre Beziehungen pflegten, dann hatte ich das Gefühl, ich sei von allen verlassen, und Gott würde mich ungerecht behandeln.

Nach der Therapie wagte ich wieder den Schritt in eine Gemeinde und begann neu, Gott mit meinem ganzen Herzen zu suchen. Langsam entstand ein Ja zu meinem Lebensweg. Eine neue Tiefe kam in meine Gottesbeziehung, und ich erkannte, dass während diesen schwierigen Jahren – auch während der Therapiezeit – tief in meinem Inneren etwas gereift war. Es war eine Beziehung zu Jesus entstanden, die ich um keine Auszeichnung und um gar nichts in der Welt mehr hätte tauschen wollen. Trotz und gerade in dieser schweren Zeit hatte mich Jesus an sein Herz gezogen. Die Beziehung war nun tiefer als je zuvor.

„Ich bin über 20 Jahre alt geworden!“

Heute bin ich geheilt von den Schlafstörungen. Die Jahre meiner Isolation und ohne Beziehungsnetz sind jetzt Vergangenheit. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es so gut tut, einen Freundeskreis zu haben. Ich wusste nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Und ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich je einen Beruf erlernen und über 20 Jahre alt werden würde. Ich hatte ja keine Hoffnung mehr für mein Leben, keine Sicht und keine Perspektive.

Inzwischen bin ich 26; nie hätte ich geglaubt, dass Jesus meine Wunden wirklich so tief und echt heilen kann und er eine völlig neue Lebensqualität schenkt. Ich weiss jetzt, dass ich leben darf und sogar von Gott erwünscht bin. Diese neue Freiheit, einfach ich selber sein zu dürfen, die belebt! Gott hat mir einen Humor geschenkt und eine Lebensfreude, die mich selber überraschen.

Es gibt tatsächlich Menschen, die mich wirklich lieben und ernst nehmen. Früher hatte ich gemeint, wenn jemand mit mir Zeit verbringt oder mit mir redet, dann tue er das nur aus Anstand oder aus Mitleid oder weil er irgendeine Information bräuchte.

Leben mit Perspektive und Dankbarkeit

Wenn ich heute auf mein Leben zurückschaue, dann habe ich eine riesengrosse Dankbarkeit in meinem Herzen. Es fällt mir schwer, sie in Worte zu fassen. Jesus Christus hat mich geheilt. Nach sieben grösstenteils „mageren“ Jahren in Schlaflosigkeit und Einsamkeit konnte ich Schritt für Schritt eine Wiederherstellung erleben. Seit vollen sechs Jahren kann ich jetzt wieder gut schlafen und habe nun einen Freundeskreis – was ich vorher nie gekannt hatte. Aber jetzt bedeutet er mir viel und gibt mir auch viel.

Mein grösster Dank aber gilt Jesus, der mich reich beschenkt und an Körper und Seele geheilt hat. „Danke, Jesus, ich liebe dich von ganzem Herzen, und es ist mein Wunsch und meine Sehnsucht, bei dir zu bleiben – für immer.“

Jesus sieht weiter. Bei ihm gibt es neue Perspektiven! Ganz egal, wie ein Leben aussieht und was einen vielleicht seit Jahren belastet. Gott tut auch heute noch Wunder!

Autorin: Ruth Bähler

Datum: 19.08.2006
Quelle: Jesus.ch

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