Dringend müsse insbesondere die Lage der allein Erziehenden verbessert werden. Caritas Europa hat die Situation in 42 Ländern untersucht - darunter auch in der Schweiz. Zu einem "Armutsrisiko" seien Kinder hierzulande geworden, sagt Jürg Krummenacher, Direktor von Caritas Schweiz, im folgrndem Interview mit. Josef Bossart: Jürg Krummenacher, Sie kritisieren die Schweizer Familienpolitik immer wieder als "unterentwickelt". Wo liegt hierzulande der dringendste Bedarf? Familien werden in der Schweiz als Privatsache betrachtet. Die Familienpolitik ist sehr föderalistisch organisiert. Das führt zu grossen Unterschieden zwischen den einzelnen Kantonen. Der Familienlastenausgleich ist ungerecht und lückenhaft. 250.000 Kinder von selbständigerwerbenden oder erwerbslosen Eltern erhalten keine oder nur eine teilweise Kinderzulage. Familien, die nicht auf ein Existenzminimum kommen, sind auf die Sozialhilfe angewiesen. Die Angebote an familienergänzender Kinderbetreuung sind völlig ungenügend. Auch hier bestehen sehr grosse regionale Unterschiede. Wo muss die Schweiz im europäischen Vergleich in Sachen Armutsbekämpfung ernsthaft über die Bücher? Das System der Ergänzungsleistungen hat sich in der Altersvorsorge und bei der Invalidenversicherung sehr bewährt. Es beruht auf dem Bedarfsprinzip, basiert aber auf einem Rechtsanspruch. Weiter notwendig sind die Realisierung des Mutterschaftsschutzes, ein Bundesgesetz für Kinderzulagen von mindestens 200 Franken für alle Kinder, wenn diese in Ausbildung sind, der Ausbau an familienergänzenden Kinderbetreuungsangeboten sowie Massnahmen zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Caritas ist ein kirchliches Hilfswerk. Wo muss sich ein solches im Netzwerk der Hilfe situieren - gerade im Vergleich zum Staat? Schliesslich gehört es auch zu unseren Aufgaben, die Gesellschaft und den Staat mit Studien und Publikationen auf soziale Probleme aufmerksam zu machen. Mit unserer Studie zu den "working poor" haben wir zum Beispiel erstmals auf das Problem der erwerbstätigen Armen aufmerksam gemacht. Sie bilden heute die grösste Gruppe unter den armen Menschen. "Working poor" sind Personen, die in einem Haushalt leben, in dem mindestens eine Person voll erwerbstätig ist - und dennoch ist das Einkommen nicht existenzsichernd. Mit dieser Publikation haben wir, meine ich, wesentlich dazu beigetragen, dass auch auf staatlicher Ebene eine Diskussion über mögliche Lösungen für dieses gravierende soziale Problem in Gang gekommen ist. Autor: Josef Bossart
Jürg Krummenacher: Anders als früher sind heute nicht mehr vor allem ältere Menschen von Armut betroffen, sondern jüngere Familien, insbesondere Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Kinder zu haben, ist damit zu einem Armutsrisiko geworden.
Das wichtigste Anliegen ist aus unserer Sicht die schweizweite Einführung von Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Familien, wie sie der Kanton Tessin bereits seit Mitte der 90er Jahre kennt. Damit könnte die Armut wesentlich reduziert werden.
Caritas kann nur Nothilfe leisten an Menschen, die vorübergehend in Not geraten sind. Dies tun wir, in Zusammenarbeit mit den regionalen Caritasstellen, im Rahmen von Sozialberatungen und finanziellen Überbrückungshilfen. Darüber hinaus tragen wir mit sozialen Projekten auch konkret zur Verbesserung der finanziellen Situation vieler Menschen bei - etwa mit den Caritas-Läden, in denen Menschen in prekären Lebensverhältnissen zu günstigen Konditionen einkaufen können. Wichtig sind auch die Erwerbslosen-Projekte, deren Ziel die Beschäftigung von ausgesteuerten Personen ist - und, falls möglich, die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Datum: 20.02.2004
Quelle: Kipa