Christen und Krieg?

Streit

Ein differenzierter Beitrag zu verschiedenen Grundpositionen

Von Bill Hybels

Die Geschichte der Menschheit ist durchzogen von Kriegen. Sie wurden geführt ...
- wegen der Eroberung bestimmter Regionen,
- aufgrund von Grössenwahn, Gier oder politischen Motiven,
- um Völkermord zu beenden oder die Menschenrechte zu schützen,
- um das Vaterland zu verteidigen und Familien und Freunde zu schützen.

Die Geschichte hat gezeigt: Menschen können offenbar nicht zusammenleben, ohne einander von Zeit zu Zeit anzugreifen.

Wir werden immer kriegerischer

Nimmt die Tendenz zur Gewalt in unserer Gesellschaft ab? Werden die Menschen allmählich freundlicher und sanftmütiger? Wer so denkt, wird durch folgende Fakten jäh enttäuscht:

- Im 16. Jahrhundert starben rund 1,5 Millionen Menschen durch Kriege;
- im 17. Jahrhundert waren es 6 Millionen;
- im 18. Jahrhundert starben 6,5 Millionen;
- Das 19. Jahrhundert war geprägt durch die industrielle Revolution und die Zunahme an Bildung - also weniger Blutvergiessen, da die Menschheit zivilisierter und klüger wurde? Weit gefehlt: Im 19. Jahrhundert mussten 40 Millionen Menschen durch Kriege ihr Leben lassen.
- Dann folgte das 20. Jahrhundert. Es war geprägt durch bessere Kommunikationsmöglichkeiten, neue Technologien, neue Universitäten; wurde dadurch dem steigenden Trend Einhalt geboten? Nein, die Kurve schnellte noch drastischer nach oben als je zuvor: 180 Millionen Menschen starben in kriegerischen Auseinandersetzungen.

Diese tragische Entwicklung sollte uns alle hellhörig machen. Was in aller Welt ist eigentlich los? Wie wird das 21. Jahrhundert aussehen, wenn nicht etwas geschieht, das diesen Trend stoppt? Derzeit finden weltweit etwa 30 Kriege statt.

„Liebet eure Feinde!“

Es gibt niemanden, dem diese Statistik mehr zu schaffen macht, als Gott. Sie bricht ihm das Herz, denn er sieht hinter jeder Zahl den einzelnen Menschen. Deshalb sagt er im fünften Gebot: „Du sollst nicht töten.“ (2 Mose 20,13) Auch im Neuen Testament zieht es sich wie ein roter Faden durch die Lehren Jesu: „Du sollst deinen Nächsten lieben.“ (Mk 12,31) Dann setzt Jesus noch eins drauf: „Liebet eure Feinde!“ (Mt 5,44) Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes heissen.“ (Mt 5,9)

Jesus verbietet seinen Nachfolgern sogar, andere mit üblen Worten anzusprechen, weil diese Feindseligkeiten auslösen. In der Bergpredigt sagt er sinngemäss: „Einige von euch sagen zum anderen: ‚Du Idiot!‘. Ich bitte euch, damit aufzuhören.“ (nach Mt 5,22)

Durch solche Schimpfwörter verletzen wir die Gefühle des anderen. Als Folge davon wird er uns etwas noch Übleres nennen, und so wird der Krieg der Worte angezettelt. Was folgt, könnte der Krieg mit Fäusten sein, dann mit Messern, dann unter Einbeziehung der Freunde, bis hin zu ganzen Nationen. Wir wollen mit diesem Domino-Effekt erst gar nicht beginnen!

Der Irak-Krieg hat viele Menschen - auch Christen - sehr polarisiert, und er hat für erhebliche Kontroversen gesorgt. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir uns nicht nur fragen, welche persönliche Meinung wir als Christen beim Thema „Krieg“ vertreten, sondern vor allem, wie wir zu unserer Überzeugung gelangt sind.

Verschiedene Grundpositionen zum Krieg

Grob gesehen kann man die verschiedenen Haltungen in folgende Gruppen einordnen:

1. Die Realisten
Auf der einen Seite des Spektrums gibt es die Realisten. Sie sind der Meinung, dass jeder Staat das Recht hat, seine Existenz zu sichern und seine Bürger zu schützen. Dazu sind alle Mittel recht: Drohkulissen, Präventivschläge, ABC-Waffen. Alles ist erlaubt, um das eigene Land zu schützen.

Realisten sind nicht unbedingt böswillige Menschen. Sie sind vielmehr der Annahme, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, in dem es feindselige politische Führer gibt, denen man nicht trauen darf. Realisten sind der Meinung, dass eine Politik, die eng mit anderen Nationen abgestimmt werden muss, eine naive Politik ist, in der das eigene Land zu viele Nachteile in Kauf nehmen muss. Deshalb befürworten Realisten grundsätzlich alles, wodurch das eigene Land und die eigene Bevölkerung geschützt wird.

2. Die Vertreter des „gerechten Krieges“
Die zweite Gruppe vertritt die Meinung, dass es gerechte Kriege gibt. Sie sagen: „Die Welt ist ein gefährlicher Ort, an dem es feindliche politische Führer gibt, die für uns eine Bedrohung darstellen; gegen diese müssen wir uns zur Wehr setzen, aber wir müssen dabei nicht ebenso grausam handeln wie sie. Daher legen wir bestimmte Grundregeln für den Fall fest, dass wir zu Waffen greifen müssen.“

Diese Position hat seinen Ursprung im vierten Jahrhundert bei Augustinus und wurde im Laufe der Jahrhunderte weiter ergänzt, unter anderem durch Thomas von Aquin. Die Vertreter des gerechten Krieges halten folgende Voraussetzungen für notwendig:

- Es bedarf eines rechtmässigen Grundes, zum Beispiel die Verteidigung des eigenen Landes vor einem Angreifer. Der Grund für einen Krieg muss stets offen gelegt werden.
- Eine rechtmässige Autorität muss den Krieg ankündigen: Das schliesst alle nicht vom Volk gewählten Gruppierungen aus. Die Gesetzgebung muss bei einer Kriegserklärung befolgt werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg müssen zudem die Vereinten Nationen ihre Unterstützung für einen rechtmässigen Krieg geben.
- Der Krieg muss als letztes Mittel gelten: Alle friedlichen Lösungen müssen ausgeschöpft sein - Debatten, Diplomatie, Kompromisse, wirtschaftlicher Boykott, Sanktionen.
- Eine rechtmässige Absicht muss angestrebt werden: Der Krieg muss aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem friedlichen Zustand für alle Beteiligten führen. Ausgeschlossen sind deshalb alle Kriege aus imperialen und wirtschaftlichen Beweggründen.
- Der Erfolg muss wahrscheinlich sein: Es ist unmoralisch, Soldaten in einen Krieg zu schicken, der keine Aussicht auf Erfolg hat.
- Das Verhältnis von Kosten und Erfolg muss stimmen: Der Erfolg eines Krieges muss die Kosten (einschliesslich des daraus entstehenden Leids) überwiegen. Kein Krieg sollte eine Heilung hervorrufen, die schlimmer ist als die Krankheit.
- Der Krieg muss klar angekündigt werden: Eine Regierung muss ihrem Feind unmissverständlich zu verstehen geben, dass er angegriffen werden soll und unter welchen Umständen der Konflikt verhindert werden kann. Dies schliesst alle Überraschungsangriffe und Terrorakte aus.
- Es muss mit rechtmässigen Mitteln gekämpft werden: Die meisten Verfechter des gerechten Krieges halten Massenvernichtungswaffen für unmoralisch, da zu viele zivile Opfer, unbeteiligte Länder und die Umwelt zu beklagen wären.

3. Die Pazifisten
Dann gibt es die Pazifisten. Auch unter ihnen gibt es ein weites Spektrum: Extreme Pazifisten glauben, dass es überhaupt keinen Umstand gibt, der es rechtfertigen würde, das Leben eines anderen auszulöschen - auch nicht die Selbstverteidigung oder die Verteidigung der eigenen Familie. Für moderate Pazifisten gibt es einige Ausnahmen: Sie würden zu einer Waffe greifen, um einen Angreifer zu verwunden. Die meisten allerdings würden lieber sterben oder andere sterben lassen, als den Angreifer zu töten. Dafür haben sie einen moralischen und einen strategischen Grund: Ihren moralischen Grund entnehmen sie der Bergpredigt: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen.“ (Mt 5,44) Auch Paulus‘ Worte werden herangezogen: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem ...“ (Röm 12,17) Pazifisten, die keine Christen sind, sind häufig inspiriert durch das Leben Ghandis oder Martin Luther Kings. Der strategische Beweggrund der Pazifisten lautet: Jede Ausübung von Gewalt führt zu neuer Gewalt. Jeder Krieg führt zu einem neuen Krieg. Wenn wir diesen Trend aufhalten wollen, müssen wir die Waffen niederlegen und Konflikte ohne Gewalt lösen. Dafür würden viele Pazifisten ihr eigenes Leben einsetzen.

Woher kommt unsere Überzeugung?

Besonders während des Irak-Kriegs haben viele Menschen in hitzigen Diskussionen ihre persönliche Meinung kundgetan. Vielleicht haben auch Sie sich an diesen Diskussionen beteiligt. Die interessante Frage ist für mich nicht, wo Sie sich persönlich in dem oben erwähnten Spektrum einordnen, sondern wie Sie zu Ihrer Überzeugung gelangt sind.

Die Forschung belegt, dass unsere persönlichen Überzeugungen durch verschiedene Einflüsse geprägt werden: zunächst durch das Elternhaus. Während unserer Kindheit haben wir viele Gespräche am Küchentisch mitverfolgt. Wenn wir in einem Elternhaus aufwuchsen, in dem der Pazifismus befürwortet wurde, wurde dadurch auch unsere Haltung früh beeinflusst. Wenn die eigenen Eltern eher Vertreter des gerechten Krieges waren, hat das Spuren bei uns hinterlassen. Dasselbe gilt, wenn sie die Meinung der Realisten vertraten. Die Forschung ist sich einig: Überzeugungen werden am stärksten durch das Elternhaus geprägt.

Auch unsere Wesensart hat Auswirkungen: Menschen mit einer sanften Persönlichkeit denken anders über Krieg und dem damit verbundenen Leid als strategische und sachorientierte Menschen. Auch unser Freundeskreis prägt unsere Meinung, ebenso unsere Bildung: Redegewandte Lehrer und Dozenten hinterlassen ihre Spuren in unserem Denken. Das Gleiche gilt für die Partei, der man nahe steht. Diese und weitere Faktoren tragen massgeblich dazu bei, wie wir über das Thema Krieg denken.

Diese Einflüsse entstammen allerdings nur den Köpfen von Menschen - das alles ist zu kurz gedacht. Die Bibel sagt in Philipper 3,20: „Unser Bürgerrecht aber haben wir im Himmel ...“ Nachfolger Jesu sind letztendlich nicht Bürger des Landes, von dem sie einen Pass besitzen, sondern Bürger des Himmels. Daher sollte jeder Christ gemäss dieses Bürgerrechts leben und seine Überzeugungen mit Gottes Überzeugungen abgleichen.

Wir müssen uns deshalb die verschiedenen Quellen unserer Prägung ansehen und ehrlich fragen: Hatten meine Eltern Recht mit ihren Ansichten über Krieg? Wie steht es mit meinen Freunden, meinen Lehrern, meiner eigenen politischen Überzeugung? Wir werfen unsere Überzeugungen zwar nicht blindlings über Bord, aber wir messen sie anhand der biblischen Aussagen.

Offenheit für Gottes Sicht

Es macht mir nichts aus, wenn Mitglieder unserer Gemeinde nach reiflicher Auseinandersetzung mit diesem Thema in den verschiedenen Lagern zu finden sind, solange sie den Prozess der eigenen Meinungsbildung gewissenhaft durchlaufen haben und solange sie ihre Meinung auf eine Weise zum Ausdruck bringen, die Christus ehrt. Wenn man zu seiner persönlichen Haltung gelangt ist, ist es wichtig, offen für neue Erkenntnisse und für das Reden des Heiligen Geistes zu bleiben, sodass er uns noch weiter in die eine oder andere Richtung des Spektrums führen kann.

Während meiner Vorbereitung auf dieses Thema kamen einige Gemeindeglieder auf mich zu und versuchten mich in die Enge zu treiben: „Wenn du über das Thema Krieg sprichst, musst du unbedingt diese oder jene Meinung vertreten!“, sagten sie aufgebracht. Ich war sehr besorgt über die hitzköpfige Haltung einiger und musste sie ernsthaft fragen: „Hast du dich überhaupt selbst ausführlich mit dem Thema beschäftigt, darüber gebetet, die Bibel studiert? Bist du dabei mit einer Haltung an das Thema herangegangen, dich dem unterzuordnen, was Gottes Geist dir sagt – auch wenn es nicht deiner vorgefassten Meinung entspricht? Hast du wenigstens fünf Bücher zum Thema gelesen – auch solche, die nicht deine Meinung vertreten?“

Vor zehn Jahren habe ich mit mir selbst ein Abkommen geschlossen, dass ich mich bei jedem heiklen Thema, über das ich predige, auch über die anderen Positionen informiere. Ich will jeweils herausfinden: „Wie hat Gott die Vertreter der anderen Position geführt? Wie sind sie zu ihrer Haltung gelangt?“ Das hilft mir, in meiner eigenen Position lernfähig zu bleiben und offen für Gottes Reden zu sein.

Ich befürchte, dass zu viele sich nur hinter ihrer Position verbarrikadieren und nicht mehr offen sind für andere Stimmen: Sie lesen ausschliesslich die Zeitungen und Bücher, die ihre Sicht noch mehr zementieren. So werden sie unfähig, einen gesunden Meinungsaustausch zu führen und unterschiedliche Positionen stehen zu lassen. Die Bibel sagt klar, dass es zur Grundhaltung eines Christen zählt, ständig zu wachsen, Neues zu lernen und empfänglich zu bleiben für tiefere Einblicke durch den Heiligen Geist.

Über allem die Liebe

Auch wenn wir durch das Studium der Bibel und der Führung Gottes zu einer neuen Position gelangt sind, sollten wir reif genug sein, Menschen mit anderen Überzeugungen zu respektieren und nicht zu attackieren. Jesus sagt, dass der höchste Wert seines Reiches die Liebe ist. Darin eingeschlossen ist der Respekt. Eine liebevolle Haltung macht es möglich, seinen Verstand einzuschalten und zu sagen: „Ich respektiere Menschen mit einer anderen Meinung und unterstelle ihnen nicht, dumm, hinterwäldlerisch oder weniger geistlich zu sein.“ An vielen Stellen der Bibel werden wir aufgefordert, nicht zu richten (z. B. Mt 7,1); stattdessen sollten wir sagen: „Hilf mir dabei, besser zu verstehen, was dich zu deiner Position geführt hat. Anschliessend kann ich dir erklären, wie ich zu meiner gelangt bin.“ So können wir gemeinsam voneinander lernen. Dabei werden wir feststellen, dass es brillante und geistliche Menschen gibt, die eine Meinung vertreten, die sich von unserer unterscheidet. Wir werden feststellen, dass wir trotzdem zur gleichen Gemeinde gehören und in einer liebevollen Gemeinschaft miteinander leben können - auch wenn der Heilige Geist uns unterschiedlich führen mag.

Es kommt auf mich an

Wie verändern wir Menschen, die bereit sind, Blut zu vergiessen, in Menschen, die bereit sind, andere zu segnen? Wie verändern wir hasserfüllte Menschen in liebevolle Menschen? Wie verändern wir Betrüger in Aufrichtige, Stolze in Demütige? Indem wir ihnen Jesus Christus vorstellen und sie zugleich unser Leben beobachten lassen. Ihr und mein Leben ist ein Mikrokosmos der zu Beginn erwähnten ansteigenden Tendenz: Durch mein tägliches Leben habe ich entweder die Möglichkeit, die Zahlen noch weiter nach oben schnellen zu lassen oder sie nach unten zu neigen. Es kommt darauf an, wie ich lebe und wie ich liebe, ob ich Brücken baue oder Mauern errichte, ob ich verurteile oder um Verständnis bemüht bin.

Ich möchte Sie herausfordern, ein Nachfolger Christi zu werden, der jeden Tag so lebt und so liebt, dass die Zahlen der Gewalt und des Krieges rückläufig werden. Das beginnt bei mir und Ihnen.

Autor: Bill Hybels

Datum: 15.04.2005
Quelle: come

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