Gelten alttestamentliche Gebote immer noch?
Der US-amerikanische Journalist A. J. Jacobs (geb. 1968) wollte herausfinden, wie es ist, wenn man sich genau an die Bibel hält. Dafür unternahm er ein interessantes Experiment. Er hielt sich ein Jahr lang so streng wie möglich an die über 700 Regeln, die er in der Bibel gefunden hatte. Vier Monate widmete er dem Neuen und acht Monate dem Alten Testament, vor allem den Gesetzen des Mose: Er spendete – nicht zehn Prozent, aber zwei Prozent seines Einkommens (3. Mose Kapitel 27, Vers 30). Am Sabbat erledigte er keinerlei Arbeit (2. Mose Kapitel 20, Vers 8). Er trug keine Kleidung aus Mischgewebe (3. Mose Kapitel 19, Vers 19). Er hielt sich an die mosaischen Speisegesetze (Kapitel 11, Vers 2). Mit menstruierenden Frauen vermied er sieben Tage lang jeglichen Kontakt (Kapitel 15, Vers 19). Und an Gesetzesbrechern vollzog er (symbolische) Steinigungen (Kapitel 20, Vers 27).
Über seine Erfahrungen mit diesen und anderen Geboten hat Jacobs ein Buch geschrieben, das auch ins Deutsche übersetzt worden ist: «Die Bibel & Ich. Von einem, der auszog, das Buch der Bücher wörtlich zu nehmen». Sein Erfahrungsbericht zeigt, wie eigenartig es wäre, das Gesetz des Mose als Handbuch für die christliche Ethik zu verwenden. Christen, die sich daran halten würden, hätten ein ausserordentlich schweres Leben und würden sich zudem lächerlich machen.
«Mose ist tot»
Natürlich sind das noch keine ausschlaggebenden Argumente dafür, dass man sich nicht an die Gesetze in der Bibel halten sollte. Denn jeder Christ sollte bereit sein, auch anstrengende ethische Regeln zu befolgen und sich für seine Überzeugungen notfalls auch auslachen zu lassen. Wichtiger ist, dass in der Bibel selbst nicht vorgesehen ist, dass sich alle Menschen an das Gesetz des Mose halten müssen. Denn erstens wurde es nur einem Volk, dem Volk Israel, gegeben und nicht allen Völkern. Und zweitens haben der mosaische Bund und das Gesetz des Mose aus neutestamentlicher Sicht mit dem Kommen des Messias Jesus auch für die Juden ihre bindende Kraft verloren (zum Beispiel Galater Kapitel 3, Verse 19-20.23-26; Kapitel 4, Verse 4-5; Kapitel 5, Vers 1; Hebräer Kapitel 8, Vers 13). Besonders deutlich hat dies Martin Luther betont: «Mose ist tot. Sein Regiment ist aus gewesen, da Christus kam. Er dient nicht weiter als bis hierher.»
Drei Arten von Gesetzen
Andererseits wäre es falsch zu meinen, dass das Gesetz des Mose für Christen bedeutungslos ist. Denn auch im Neuen Testament spielen mosaische Gesetze eine wichtige Rolle – allerdings auf eine spezielle Art und Weise. Um das zu erklären, haben bereits die Kirchenväter (wie Justin und Hieronymus) und die Reformatoren (wie Luther und Calvin) eine dreifache Differenzierung vorgenommen. Sie unterschieden im zweiten bis fünften Mosebuch zwischen dem Moralgesetz, dem Zeremonialgesetz und dem Judizialgesetz: Zum Moralgesetz gehören in erster Linie die Zehn Gebote, etwa das Verbot, andere Götter als Jahwe zu verehren, und das Verbot, die Ehe zu brechen. Zum Zeremonialgesetz gehören unter anderem die Vorschriften über die Stiftshütte, die Priester und die Opfer. Und zum Judizialgesetz gehören zum Beispiel die Bestimmungen zum Scheidebrief, zum Schadensersatz und zur Prügel- und Todesstrafe.
Das ewige Moralgesetz
Luther und Calvin waren sich einig, dass die zweite und die dritte Gruppe von Gesetzen für Christen nicht verbindlich sind. Christen müssen sich nicht an die von Mose vorgeschriebenen Zeremonien halten. Und auf christlicher Grundlage regierte Staaten müssen sich auch nicht an die Judizialgesetze des Alten Testaments halten. Christliche Politiker dürfen sich zwar bei der Formulierung von Gesetzen am Vorbild des mosaischen Gesetzes orientieren. Aber sie sind nicht dazu verpflichtet.
Etwas anders verhält es sich mit dem mosaischen Moralgesetz. Vor allem Calvin hat betont, dass es für die christliche Ethik nach wie vor nützlich ist. Das Moralgesetz ist im Unterschied zu den übrigen Bestandteilen des mosaischen Gesetzes nicht nur für ein Volk in einer bestimmten Zeitepoche verbindlich, sondern für alle Menschen zu allen Zeiten. Denn es deckt sich weitgehend mit dem, was jeder Mensch in seinem Gewissen als richtig und als falsch empfindet.
Die Zehn Gebote und das Liebesgebot
Dass die moralischen Teile des mosaischen Gesetzes tatsächlich auch für Christen relevant sind, ergibt sich aus den Briefen des Apostels Paulus. Sie zeigen auch, auf welche Abschnitte des mosaischen Gesetzes Paulus sich in seiner Ethik bezogen hat. Erstens bezog sich Paulus in seinen ethischen Aussagen mehrfach auf die Zehn Gebote: auf das Elterngebot (2. Mose Kapitel 20, Vers 12 par 5. Mose Kapitel 5, Vers 16 in Epheser Kapitel 6, Verse 2-3), auf das Begehrensverbot (2. Mose Kapitel 20, Vers 17 par 5. Mose Kapitel 5, Vers 21 in Römer Kapitel 7, Vers 7) und auf die sogenannte zweite Tafel des Dekalogs (2. Mose Kapitel 20, Verse 13-16 par 5. Mose Kapitel 5, Verse 17-20 in 1. Timotheus Kapitel 1, Verse 8-11).
Zweitens räumte Paulus in seiner Ethik den zentralen Platz dem Liebesgebot aus 3. Mose Kapitel 19, Verse 18b ein: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Dieses Liebesgebot deutete Paulus als Zusammenfassung der zweiten Tafel der Zehn Gebote (Römer Kapitel 13, Verse 8-10). Und er bezeichnete es als das «Gesetz Christi» (Galater Kapitel 5, Verse 13-14; 6,2; vgl. 1. Korinther Kapitel 9, Verse 20-21). Es gibt bei Paulus noch einige andere Anspielungen auf das Gesetz des Mose, aber in erster Linie orientierte er sich an den Zehn Geboten und am Liebesgebot.
Das Gesetz im Zentrum der christlichen Ethik
Wie dieser Überblick über die Paulusbriefe zeigt, kann das einjährige Experiment des amerikanischen Journalisten Jacobs zwar offenlegen, wie fremd uns viele der alttestamentlichen Gesetze sind – zu einer christlichen Ethik kann es aber nichts beitragen. Die christliche Ethik muss weder auf die Zeremonialgesetze noch auf die Judizialgesetze des Mose zurückgreifen. Nur das mosaische Moralgesetz bleibt verbindlich, weil es immer und für alle Menschen gilt. Seinen zentralen Ausdruck hat es in der zweiten Hälfte der Zehn Gebote gefunden und im Liebesgebot, das diese Gebote zusammenfasst: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Dieses mosaische Gebot ist das Zentrum der christlichen Ethik.
Prof. Dr. Armin D. Baum ist Professor für Neues Testament und Leiter der Abteilung Neues Testament an der Freien Theologischen Hochschule Giessen (FTH). Ähnliche Impulse gibt es im Magazin LEBENSLAUF. Infos zum günstigen Jahresabogutschein des Magazins findest du hier.
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Datum: 12.10.2025
Autor:
Armin Baum
Quelle:
Magazin LebensLauf 05/2025, SCM Bundes-Verlag