US-Verfassung erlaubt wieder PC-Gewaltspiele: Gericht kippt Verbot für Minderjährige

Kind am PC
PC-Spiel

St. Louis. Ein Verbot von Computerspielen mit gewalttätigen Inhalten für Minderjährige ist in den USA nicht verfassungskonform. Diese Entscheidung fällte ein Berufungsgericht des Bundes in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri und kippte damit eine entsprechende County-Verordnung sowie die Entscheidung einer niedrigeren Instanz.

Die geltende Regelung wurde von der Interactive Digital Software Association (IDSA) seit ihrem Erlass vor zwei Jahren bekämpft, berichtet das Wall Street Journal. Der Erfolg ist der Auftakt zum Sturm auf ähnliche Verordnungen. Im vergangenen Monat hat die IDSA angekündigt auch eine derartige Regelung im Bundesstaat Washington zu Fall bringen zu wollen.

2002 hatte ein Bezirksgericht die County-Verordnung noch bestätigt und auf die psychologische Gefährdung von Minderjährigen durch Gewaltspiele verwiesen, die einen Schutz der Jugendlichen rechtfertige. Aber das Bundesgericht hat nun die psychologische Gefährdung durch derartige Spiele in Frage gestellt, wodurch wieder das First Amendment der US-Verfassung zur Anwendung kommt. Dies gewährleistet die freie Meinungsäusserung. Ob Gewaltspiele eine angemessene Unterhaltung für Minderjährige sind, sei irrelevant, heisst es in der Begründung. Die Spiele würden ebenso unter den Schutz der freien Rede fallen wie die beste Literatur.

Die IDSA hat sich immer auf die Verfassungswidrigkeit des gesetzlichen Jugendverbotes berufen. Ein derartiges Gesetz sei zudem unnötig. Die IDSA sieht die Verantwortung dafür, ob Minderjährige Gewaltspiele konsumieren im Bereich der Eltern. Sinnvoll sei daher nur sich auf die Aufklärung der Eltern zu konzentrieren.

Folgen noch zu wenig erforscht

Dass brutale Bilder an Kindern jedoch nicht spurlos vorübergehen, zeigt eine Studie von Hirnforschern aus Texas. Sie haben acht- bis dreizehnjährigen Jugendlichen Szenen aus dem Film "Rocky IV" vorgeführt. Danach war im Hirn ihrer Versuchspersonen ein bestimmtes Areal aktiviert - und zwar so, wie es sonst bei Menschen der Fall ist, die reale Vergewaltigungen, Kriege oder Unglücke durchmachen mussten. Dennoch streiten die Fachleute nach wie vor, ob jemand, der Bildschirmgewalt erlebt, dabei unbewusst lernt, dass aggressives Verhalten sich lohnt. Oder ob er auf diese Weise seine natürlichen Aggressionen loswerden kann.

Andere Aspekte zu PC-Spielen

Kürzlich erklärte ein jugendlicher Counterstrike-Spieler einem Journalisten: "Wenn man so etwas lange spielt, entwickelt man eine Reaktionsgeschwindigkeit, mit der man im Alltag überhaupt nicht mehr funktionieren kann. Das verändert die Art, wie man die Realität wahrnimmt. Die Schule kommt einem dann vor wie in Zeitlupe."

Jeder Lehrer kennt inzwischen solche "schnellen" Schüler, die auch im Unterricht immer neue Sensationen erwarten. Die sich am ehesten noch durch hyperaktives, Videoclip-artiges Kasperletheater interessieren lassen.

Von Bild zu Bild getrieben

Wie Fernsehen und Computerspiele geistige Prozesse verändern, hat die Münchener Medienpsychologin Herta Sturm bereits vor einigen Jahren ausführlich untersucht. Unser reales Leben, stellte sie fest, zeichnet sich durch zahlreiche winzige Pausen aus. Wir atmen. Wir drehen den Kopf. Wir gehen zur Tür, zum Tisch, zum Fenster und so weiter. In diesen Auszeiten benennen wir das Geschehene, fügen es in unsere Innenwelt ein und bereiten uns so auf Kommendes vor.

Vor dem Bildschirm dagegen wird der Betrachter von Bild zu Bild, von Situation zu Situation getrieben, ohne Zeit zur Verarbeitung. Sturm zeigte, dass es dadurch zum "Verlust der inneren Verbalisierung" kommt: Der Medienkonsument benennt die auf ihn einstürmenden Bilder und Gefühle innerlich nicht mehr. Ihren Inhalt kann er daher später schlecht oder gar nicht wiedergeben. Im Gedächtnis bleiben nur diffuse emotionale Eindrücke. Es finde in solchen Abläufen keinerlei Selbstreflexion statt, sagt der Hannoveraner Publizist und Psychologe Wolfgang Bergmann.

Da sitzen Jugendliche wie gebannt vor Monitoren und schwelgen in Bildern - in "mehrdeutigen Symbolkomplexen", die "magischen Charakter" haben, wie der Medienphilosoph Vilém Flusser es ausdrückt. Jene jungen Erwachsenen, welche die Software für diese Bilderreisen programmieren, können vielleicht noch nachvollziehen, was Computerspieler erleben. Älteren Erwachsenen jedoch, deren Generation die technische Grundlage für die heutige Computerwelt geschaffen hat, ist das bildhafte Denken eher fremd.

Denn unsere Zivilisation beruht auf dem genau entgegengesetzten Typus geistiger Leistung: Wer physikalische und mathematische Gesetze verstehen und Maschinen bauen will, kann sich nicht in vieldeutige Bilder fallen lassen. Er oder sie muss klar definierte Einzelaspekte aus dem grossen Ganzen herausfiltern und sie logisch anordnen. Fachleute nennen das "seriell denken".

Gefühl und Fantasie

"Wenn Sie mit dieser Denkweise an ein Video- oder Computerspiel rangehen, haben Sie keine Chance", sagt Jens Wiemken. Der Medienpädagoge und Computerspiel-Experte erklärt "altmodischen" Denkern die Bedingungen in der digitalen Welt am Beispiel des Videospiel-Klassikers "Pac-Man". Der sei einfacher aufgebaut als die heutigen Spiele, fordere aber ähnliche Fähigkeiten: Pac-Man - ein gelber Kreis mit keilförmigem Mund - wird mithilfe des Joysticks durch ein Labyrinth geführt. Vier Geister versuchen Pac-Man zu verschlingen. Sie haben unterschiedliche Verhaltensmuster, sind verschieden schnell und angriffslustig. "Ich muss also nicht nur Pac-Man im Auge haben, sondern gleichzeitig auch die Gegner", sagt Wiemken.

Wenn Tempo und "alte Vernunft" kollidieren

Um in einer derartigen Umgebung zu bestehen, muss sich der Blick auf das Ganze - oder zumindest auf den ganzen Bildschirm - richten. "Der Spieler vor dem Monitor", beschreibt Wolfgang Bergmann dieses Phänomen, "muss nie nur eines, nie einen Punkt, eine Figur fixieren, wie es die alte Vernunft gelehrt hat - er muss vieles gleichzeitig zur Kenntnis nehmen und zugleich daran denken, dass das Ganze, während er spielt und durch sein Spiel, unaufhörlich verändert wird." Zweifellos eine sehr komplexe geistige Tätigkeit, die jedoch notgedrungen relativ oberflächlich bleibt - denn sonst litte die Geschwindigkeit.

Quellen: pte online/geo/Livenet

Datum: 06.06.2003

Werbung
Livenet Service
Werbung