Anhand Quentin Tarantinos aktueller Gewaltorgie „Kill Bill“, wo durch Samurai-Schwerter das Blut in Strömen fliesst, stellt die Zeitung die Frage nach der Verträglichkeit von Gewaltdarstellungen im Medium Film. Der Tenor unter den befragten Teens lautet wie erwartet: Wir können damit umgehen, doch gibt es sicher auch solche, die das nicht können. Allerdings: Kill Bill treibt es auf die Spitze. Die AZ beschreibt: „Blut, Blut und nochmals Blut. Es läuft aus weit aufgerissenen Augen, spritzt aus abgehackten Gliedern und aufgespiessten Leibern. Blut tropft von Decken und Wänden, sickert durch Matratzen und sammelt sich auf Parkettböden und im Schnee – und in den Kleidern der Hauptdarstellerin und ihren Gegnern. Und das Blut macht Geräusche: zischt, blubbert und gurgelt – dank Surround-Sound von allen Seiten und gebührend verstärkt.“ Die Zeitung hat drei Jugendliche im Alter von 17-19 Jahre als „Versuchskaninchen“ engagiert und den Film anschauen lassen. Anschliessend werden sie über ihre Eindrücke befragt. Gleich zu Beginn des Films wird die Handlung auf den Punkt gebracht: Eine junge Frau wird furchtbar gequält. In den folgenden zwei Stunden wird sie sich dafür rächen. Das ist die Handlung. Einen um den anderen bringt sie um. Nie hinterrücks, immer mutig (in einem sexy Outfit) und vom Kult-Regisseur Quentin Tarantino kunstvoll in Szene gesetzt. Schon in der Pause gibt zehn, und später bis zwanzig aufgespiesste und zerstückelte Menschen. In einer ersten Standortbestimmung hätten die drei Jugendlichen etwas „zerschlagen“ gewirkt. Allerdings haben alle drei immer hingeschaut. Der Actionfilme gewohnte Roger gab jedoch an, zwischendurch die Augen geschlossen zu haben. „Brutaler als erwartet“, sagte er dazu. Auralia fand den Film doof: „Keine Handlung. Nichts als ein Riesenmassaker“. Die beiden Männer hingegen fanden ihn gut. Auch wenn Christopher einräumte, dass Tarantino „nicht ganz normal sein“ könne. Die Gewalt sei auszuhalten, weil sie so übertrieben sei, dass man sie gar nicht ernst nehmen könne. Die drei finden sodann, etliche Szenen wirkten anmutig und die Musik sei genial. „Ist Gewalt einfacher auszuhalten, wenn kunstvoll umgesetzt?“, fragt die Zeitung. „Ja“, ist Aurelia überzeugt. Und die Gefühle der Hauptperson, der Rächerin gegenüber? „Eine Powerfrau! Das sie so was zustande bringt. Man versteht sie ein Stück weit, bei dem was sie erlebt hat.“ sagt Christopher und Aurelia: „Man kann ihre Wut nachvollziehen. Aber ihre Rache ist unverhältnismässig.“ Mit fortschreitender Filmdauer habe man sich etwas an die Szenen gewöhnt, findet das Trio: „Bei der ersten Szene erschrickt man extrem. Aber mit der Zeit weiss man, was kommt.“ Grundsätzlich finden dann alle drei den Film gut und empfehlenswert. Roger meint aber: „Es gibt bestimmt Leute, die schauen so was und setzen das dann in Realität um. Vielleicht solche, mit einer schwierigen Lebensgeschichte.“ Christopher. „Wir können damit umgehen.“ Die Zeitung wollte es nicht dabei bewenden lassen und hat dazu vier Thesen angeboten, die wir original zitieren. Man kann sie im Internet aufrufen und dazu seine Meinung äussern. Kunst will wahr sein, also muss sie auch die Schatten des Menschlichen darstellen Würde Sie ein Stück von Shakespeare faszinieren, wenn darin lauter tugendhafte Menschen dem Happy End entgegenfieberten? Können Sie sich Märchen vorstellen ohne Bösewichte, Gedichte ohne das Dunkle, Musik ohne dramatische Wendungen, Bücher über Menschen, die nur Gutes tun und denken, Fotografie oder Malerei, die nur die heiteren Seiten zeigen? Nein. Das wäre nicht nur langweilig und platt, sondern unecht und unrealistisch. Eine der Kern-Aufgaben von Kunst ist es, die gesellschaftlichen Realitäten zu spiegeln, grundsätzliche Wesenszüge des Menschen aufzuschlüsseln. Dazu zählen nicht nur unsere Sehnsucht nach Schönheit, Liebe und Harmonie, sondern auch Intrige, Bosheit und Gewalt. Ein wichtiges Mittel der Kunst ist die exemplarische Überzeichnung. Soll sie wirken, so muss sie uns berühren, faszinieren, kurz anregen Gefährlich wird es, wenn Kunst die Gewalt verherrlicht, heroisiert oder ästhetisiert. Sie ins Positive umzumünzen, sie zu feiern, widerspricht unserer humanistischen Grundhaltung. Dass die Kunst auf Messers Schneide zwischen dem Tabu und dem Akzeptierten tanzt, gehört aber zu ihrer gesellschaftlichen Aufgabe des Sensibilisierens. Gewalt in Filmen und Video-Games führt unweigerlich zur Verrohung Gewaltspiele am Computer und Gewalt verherrlichende Filme senken die Reizschwelle bei Kids enorm. Das kann jede Lehrperson bestätigen: Heute bilden zunehmende Gewaltbereitschaft und Grundaggressivität unter Kindern in der Schule eines der Hauptprobleme. Die permanente Berieselung mit Gewaltszenen stumpft ab, die unterschwellige Botschaft, dass alle Differenzen mit Raketenwerfer, Pistole oder Wurfstern zu lösen sind, führt zu einer problematischen Verschiebung der Wahrnehmung. Allmachtsphantasien oder paranoide Schübe („Die Feinde lauern überall“) sind keine Seltenheit mehr. Natürlich machen uns Jugendpsychologen wie Allan Guggenbühl oder Filmwissenschafter klar, dass Gewalt vor 10’000 Jahren ein viel grösseres gesellschaftliches Problem gewesen sei. Nur nützt das Junglehrern wenig, die sich mit 9-Jährigen herumschlagen, bei denen das Akkord-Abmurksen am Bildschirm zum täglichen Ritual gehört. Alkopops und Zigaretten zu posten ist für Jugendliche verboten. Aber hat schon jemand ein Kind gestoppt, das „Alien-Resurrection“ (wo ein Monster Köpfe mit den Händen zerplatzen lässt und neugierig die Gehirnmasse kostet) im DVD-Verleih organisiert? Das Kino lebt von fiktiver Gewalt. Wozu die Aufregung um „Kill Bill“? Die Filmgeschichte strotzt vor Blutrünstigkeiten. Da wird gemeuchelt und gemordet; im Normalfall ohne dass sich das Kinopublikum aufregt. Ein guter Krimi gehört zum guten Ton, Bösewichte werden im Finale kaltgemacht, so die landläufige Akzeptanz. Doch hin und wieder ereilt uns die Aufregung, dass bei diesem oder jenem „Skandalfilm“ die Grenze des Zumutbaren überschritten worden sei. Stellt sich die Frage: Was ist denn zumutbar? Wer legt diese Grenze fest? Und wie realistisch ist es anzunehmen, dass solche fiktive Gewalt plötzlich in reale Aggression umschlägt? Im Fall von „Kill Bill“ ist dies relativ einfach zu beantworten. Dass nach dem Anschauen von Tarantinos Film plötzlich Massen von rachedurstigen Kampfweibern ausziehen, um mit dem Samuraischwert aufzuräumen, steht kaum zur Debatte. Da fehlt dem Werk jede realistische Grundlage. „Kill Bill“ ist Künstlichkeit pur: ein comicartig überzeichnetes Metzeln, das sich (fast) nur aus verdichteten Filmzitaten speist. Wollte man solches verbieten, müsste man konsequenterweise auch die Originale von Akira Kurosawa, Sergio Leone, John Woo sowie alle Bruce-Lee-Streifen aus dem Verkehr ziehen. Verbote nützen im Internet-Zeitalter wenig. Die Eltern sind gefragt. Fime, Video- und Computerspiele, in denen Gewalt als Selbstzweck daherkommt, verherrlicht und verharmlost wird, bergen Gefahren in sich. Bei Jugendlichen, deren Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, könnten sich Realität und Fiktion durchaus vermischen. Was tun? Staatliche Verbote können im Internet-Zeitalter problemlos umgangen werden. Gleichwohl muss der Staat Leitplanken wie Altersbeschränkungen aufrecht erhalten. Dies als Hilfestellung für Eltern, die ihrerseits darauf angewiesen sind, dass Verkäuferinnen und Verkäufer zu jungen Konsumenten solche Videos und Games verweigern. Auf irgendwelchen Wegen kriegen die Kids sie trotzdem. Spätestens dann sind die Eltern am Zug. Beim gemeinsamen Betrachten solcher Bilder gilt es, Gewaltverherrlichung zu hinterfragen – in der Hoffnung auf Einsicht. Bei zu brutalen Videos bleibt nur ein elterliches Machtwort. Im Interesse der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Quelle: Livenet/ Aargauer Zeitung„Wir haben immer hingeschaut“
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Datum: 04.11.2003
Autor: Fritz Imhof