... aber ich habe Frieden gefunden
Er lebte nur etwa 50 Meter von unserem Haus entfernt. Wie oft es geschehen ist, weiss ich nicht mehr genau. Erst viele Jahre später, als ich vernahm, dass er sich das Leben genommen habe, drangen die Bilder von damals an die Oberfläche: sein Gesicht, seine Hand, die mich hält, die Hilflosigkeit, die Angst ... Die Erinnerungen sind auch heute noch bruchstückhaft. Zu lange waren sie in mir versteckt. Zu lange wollte sich meine Seele mit Vergessen schützen.
Jahrzehnte später
Ich wusste immer, dass etwas geschehen war, damals. Deshalb wollte ich auch nie mehr in unser Dorf zurück, das ich mit 17 verlassen hatte. Als sich dieser Mann auch noch mit einer Frau aus unserer Familie verheiratete, wurde mein Schmerz noch grösser. Aber erst jetzt – Jahrzehnte später – brachen die Bilder aus der inneren Verbannung herauf. Sein Tod war eine riesige Erleichterung für mich.
Erstmals konnte ich über diese alten Erlebnisse sprechen. Psychischer und körperlicher Missbrauch machen hilflos. Scham und Schuldgefühle verschliessen die Tür des Bewusstseins. Heute kann man über alles reden: Alkoholprobleme, Drogensucht, Geldnot ...
Aber wer würde mir glauben, wenn ich all das erzählte, was mir geschehen ist? Wer könnte ertragen zuzuhören, welche Qualen ein Mädchen, eine Frau ertragen muss, wenn sie von jemandem immer und immer wieder benutzt wird, um seine eigenen Sehnsüchte und Triebe zu befriedigen?
Immer wieder ...
Mein Vater war alkoholabhängig. Er vernachlässigte uns. Er schlug uns. Wir waren früh auf uns selbst gestellt. Alle vier Kinder aus erster Ehe zählten bei ihm nichts. Auf diesem Hintergrund konnte der Missbrauch noch viel leichter geschehen. Dieser Mann aus meiner Kindheit war auch nicht der Einzige. Es geschah immer wieder, dass Männer mich ausnutzten und ausnutzen liessen. Ich musste auch abtreiben.Oft fühlte ich mich ohnmächtig und allein. Nach meiner Flucht ins Ausland war ich jahrelang unterwegs. Ich lernte tüchtig zu arbeiten, konnte Verantwortung übernehmen, war attraktiv und fröhlich. Äusserlich jedenfalls. Drinnen in meiner Seele war eine grosse Leere. Ich konnte meinen seelischen Schmerz mit niemandem teilen. Auch später nicht mit meinem Mann. Zwei Ehen sind zerbrochen. Nun bin ich wieder ganz allein.
Eine innere Unruhe begleitete mich ständig. Ich war hyperaktiv, machte überall mit, half vielen Menschen. Ich habe in den vergangenen Jahren fast alles erlebt: Ich war beliebt und verachtet. Ich war reich und arm. Ich hatte viele Freunde und war allein. Woher meine grosse Unruhe kam, wusste ich nicht. Oft hatte ich Panik- und Angstzustände.
Ich schämte mich (unbewusst) für all das, was an und mit mir geschehen war. Dieses Schamgefühl hüllte mich ein. Es nahm mich gefangen. Es lähmte meine Seele, machte mich depressiv. Ich fühlte mich wertlos, ungeliebt, traurig. Jeden Tag holten mich diese Gefühle irgendwann ein und überrollten mich wie eine ins Tal donnernde Lawine.
Frieden? damals unvorstellbar
Dass ich über allem einmal Frieden finden würde, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Aber ich habe Frieden gefunden. Im Glauben, durch die Hilfe meines Seelsorgers, aus Gottes grosser Liebe! Gott holte mich ein und heilte mich.Heute kann ich sagen: «Ich war lange Jahre nicht bei Gott, aber Gott war mit mir.» Er war immer bei mir, das habe ich erkannt. Er hat mich mit all meiner Scham und eigenen Schuld geliebt. Immer! Es ist nicht so, dass ich heute ganz schmerzfrei über der Sache stehe. Es sind nicht alle Wunden restlos geheilt, aber ich habe Frieden.
Heute, wenn ich dies alles erzähle, spüre ich zwar die Schmerzen meiner Wunden und Narben, aber ich habe einen tiefen inneren Frieden in mir. Ich weiss, dass ich von Gott geliebt und in seinen Augen wertvoll bin. Nur deshalb kann ich so offen über meine Erlebnisse sprechen.
Früher blieben die Erinnerungen schwach und unbewusst. Dennoch bestimmten sie mein Leben. Jedes Mal, wenn sie wie kurze, schmerzvolle Blitze an die Oberfläche zu dringen versuchten, erloschen sie sogleich wieder. Mehr konnte ich nicht ertragen. Das an mir Geschehene musste sofort wieder in die Dunkelheit des Unbewussten zurück. Doch dort bewirkte es diese grosse Unruhe und Leere, von der ich schon sprach.
Die Heilung begann mit einer Ausgabe von «besser läbe». Darin standen wertvolle Gedanken einer Beraterin zum Thema Missbrauch. Sie zeigte Schritte der Heilung auf: Sich erinnern, sich bestätigen, die Schuld, Verantwortung und Verzweiflung ansehen – trauern über die nie gestillten Bedürfnisse, über die verlorene Kindheit – sich versöhnen mit sich selbst, mit Gott, mit Personen, die uns Unrecht getan haben, mit denen, die es geschehen liessen – Wiederherstellung und Fest der Freude.
Hoffnung auf Heilung
Die Beraterin zeigte auf, dass es Hoffnung gibt. Heilung war etwas, das sie vielfach erlebt hatte. Sie sagte: «Jesus sieht dich in deinem ganz persönlichen Schmerz.» Es dauerte noch einige Zeit, bis auch ich kompetente Hilfe und einen Weg aus der inneren Zerrissenheit fand.Ich war normal und krank gleichzeitig. Nach aussen lebte ich ein ganz normales Leben, innerlich war ich völlig zerbrochen. In der Seelsorge lernte ich, dass Jesus alles heilt und vergibt: Das was uns angetan wurde und das was wir getan haben. Jesus hat alles vergeben. Alles! Ich hatte vorher schon oft von Vergebung gehört, aber zutiefst in mir hatte ich es nicht verstanden.
Die Gewissheit der Vergebung fehlte mir, bis ich sie mit Hilfe des Seelsorgers erkannte. Heilung ist ein Weg, ein Prozess. Ich habe nach 27 Jahren meinen Vater besucht. Er hat vor seiner Familie gesagt: «Ich habe euch so oft geschlagen!» Er hat Reue gezeigt. Ich habe ihm vergeben.
Da wurde es mir bewusst
Ich fand keinen Weg aus meiner inneren Leere. Erst als mir bewusst wurde, dass Gott mich im Leib meiner Mutter geschaffen hat, wie es die Bibel sagt, konnte ich mich annehmen. Gott hat mich gewollt. Gott hat mich geliebt. Gott war ich nie gleichgültig, nie!Gott hat mich zu sich gezogen. Er liebt mich uneingeschränkt. Ich muss nicht länger um die verlorene Liebe meines Vaters trauern oder die Menschen anklagen, die mir Leid zufügten. Es ist so unendlich gut, an Gott zu glauben. Er hat gesagt: «Ich bin dein Gott! Liebe deinen Gott, liebe mich!»
Es ist für mich ein grosses Wunder und Geschenk, zu wissen, dass Gott nichts unmöglich ist. Ich habe viel erlebt. Gott hat viel vergeben und geheilt. Ich kann mit ihm über alles reden im Gebet. Ich schäme mich nicht mehr für das, was an mir geschehen ist.
Ich kann dadurch Schweres besser verstehen und anderen Menschen mehr Liebe geben. Die Erinnerungen können noch schmerzen. Aber ich habe das Geschehene angenommen. Es ist nicht alles weg, auch nicht vergessen. Aber ich habe Frieden gefunden. Frieden in Gott!
Dieser Artikel wurde uns freundlicherweise von TextLive (leicht gekürzt) zur Verfügung gestellt.
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Dossier Missbrauch
Datum: 02.11.2011
Quelle: Textlive