Deutschland: Für wen gilt die Menschenwürde?
Frauke Brosius-Gersdorf vertritt eine ethische Position, die sie selbst als «Position der Mitte» erklärt, die aber an einem Hauptpfeiler der deutschen Verfassung sägt. Nach ihrer Ansicht ist es ein «biologistisch-naturalistischer Fehlschluss, zu meinen, die Menschenwürde gelte überall, wo menschliches Leben existiere» (Zitat aus einer Festschrift für ihren Doktorvater). Im Umkehrschluss: Es gibt menschliches Leben, das nicht der Menschenwürde untersteht und damit auch nicht geschützt werden muss.
Das deutsche Grundgesetz hält fest: «Die Würde des Menschen ist unantastbar». Diese Grundüberzeugung kommt nicht aus der Antike (wo Menschenrechte, die für alle galten, nicht gegeben waren) oder aus irgendeiner säkularen Philosophie, sondern basiert eindeutig auf der jüdisch-christlichen Lehre, dass Gott den Menschen «ihm zum Bilde» geschaffen hat. Diese Würde muss sich ein Mensch nicht verdienen – sie ist eben Würde, nicht ein Wert – und sie ist unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Rasse oder Klasse. Gerade Deutschland hat in der Vergangenheit erlebt, was geschieht, wenn Menschenwürde zur Verhandlungsmasse wird – bald einmal gibt es «lebensunwertes Leben». Denn wer will bestimmen, welche Menschen Würde haben und geschützt sind – und welche nicht?
«Haarsträubendes Zitat»
Der sonst eher friedliche Dr. Johannes Hartl drückt in einem pointierten Talk sein Entsetzen über die Tatsache aus, dass eine Person in das Bundesverfassungsgericht gewählt werden soll, die diese unbedingte Unantastbarkeit der Menschenwürde hinterfragt. Hartl: «Die Menschenwürde ist keine Lappalie. Sie ist nicht diskutierbar. Das hier ist ein negativer, böser Satz.» Darum: «Wer behauptet, dass die Menschenwürde nicht für alle Menschen gilt, ist im Bundesverfassungsgericht fehl am Platz.»
Die Menschenwürde in ihrer modernen westlichen Form sei nur aus der Gott-Ebenbildlichkeit abzuleiten, und es sei eine alte Erfahrung: «Wenn Menschen Gott aus dem Blick verlieren, verlieren sie am Schluss auch den Menschen aus dem Blick.»
Beispiel Abtreibung
Das zeigt sich nicht nur, aber besonders deutlich bei der Frage der Abtreibung. In einer Anhörung zur Abschaffung von Paragraf 218 hatte Brosius-Gersdorff erklärt, es gebe «gute Gründe dafür, dass die Garantie der Menschenwürde erst ab Geburt gelte». Hartl dazu: «Wenn die Menschenwürde relativ ist, wird alles zur Verhandlungsmasse. Warum soll es falsch sein, ein Baby einen Tag vor der Geburt zu töten?» Das führe zur grotesken Möglichkeit: «Einen Tag vor der Geburt darf man ein Kind töten – einen Tag später wird man wegen Mord verurteilt.» In England ist seit kurzem die – in der Praxis natürlich selten vorkommende – Abtreibung bis zur Geburt straffrei.
Das Verfassungsgericht aus der Politik raushalten
Bedenklich findet Hartl es auch, dass hier – was man sonst immer den USA vorwerfe – eine Wahl ins Bundesverfassungsgericht nach politischen Kriterien stattfinde. Die Justiz müsse von «unseligen Grabenkämpfen» freigehalten und die Gewaltenteilung bewahrt werden: «Das Bundesverfassungsgericht darf nicht zum politischen Spielball werden», indem man eine Richterin wählt, die eine «aktivistische Meinung zu ethischen Themen» vertritt und früheren Urteilen dieses Gerichts eindeutig widerspreche.
Hat die CDU noch Überzeugungen?
Die CDU hatte aus koalitionstechnischen Gründen der Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zugestimmt, was das Medienmagazin PRO wie folgt kommentierte: «Was zeichnet das christliche Menschenbild aus, für das die Partei mit ihrem Namen steht, wenn nicht die unhinterfragbare Würde des Menschen vom Anfang bis zum Ende? Stattdessen lässt sie sich von den linken Parteien unter Druck setzen und von der AfD vor sich her treiben. (…) Wenn es die Christdemokraten nicht schaffen, gegen den Druck von links überzeugend ihr christliches Menschenbild mit dem Schutz des Lebens von Anfang an in Verbindung zu bringen, wird sich die AfD als Hüterin der Menschenwürde inszenieren können.»
Der Bundesverband Lebensrecht begrüsste, dass «viele Abgeordnete in letzter Minute ihrem Gewissen folgten». Dass jedoch nicht die Positionen der Kandidatin Brosius-Gersdorf, sondern angebliche Plagiate zur Absetzung der Wahl führten, bezeichnete die Vorsitzende des Verbandes, Alexandra Maria Linder, allerdings als «ein peinliches Trauerspiel».
Immerhin ist die Wahl einstweilig verschoben und soll nun nach der Sommerpause des Parlaments stattfinden.
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Datum: 16.07.2025
Autor:
Reinhold Scharnowski
Quelle:
Livenet.ch / Dr. Johannes Hartl / PRO-Medienmagazin