In den letzten dreissig Jahren seien die Kirchen in der Schweiz zwar in einen "Abwärtstrend" geraten, stellte der Freiburger Theologe Leo Karrer fest. Doch das dürfe nicht als Absage an Religion gedeutet werden: "Gott punktet heute viel mehr als die Kirchen." Es gebe so etwas wie eine "religionsschwangere Sehnsucht", die aber kaum Niederschlag in der Alltagspraxis finde. Die Schweiz sei "allen Ausfransungen zum Trotz" immer noch ein christliches Land, meinte der Luzerner Kirchenhistoriker Victor Conzemius zuversichtlich. Wichtig sei aber, dass die religiöse Ausbildung der jungen Menschen wieder verbessert werde, um sich Ignoranz und "Patchwork-Religiosität" entgegenzustellen. Von einem "Verdunsten" grundlegenden Wissens über christliche Inhalte und demzufolge fehlender Identifikation mit einer christlichen Konfession sprach Agnell Rickenmann, Pfarrer in Oberdorf. Das aber berge ein "Angstpotential" gegenüber Religion in sich, wie dies in manchen Reaktionen gegenüber dem erstarkenden Islam in der Schweiz zum Ausdruck komme. Rickenmann: "Wer eine Position des Nichtwissens einnimmt, der vertritt die Meinung, dass Religion nicht in die Öffentlichkeit gehört, denn sie ist ihm etwas Suspektes." Ihm falle auf, wie wenig in der Schweiz christliche Religiosität im öffentlichen Leben spürbar sei, sagte Farhad Afshar, Präsident der Koordination Islamische Organisationen Schweiz. "Wo bleibt eine christliche Umweltethik, eine christliche Wirtschaftsethik?" Auf Seiten der 350’000 Muslime in der Schweiz sei die Angst der Schweizer vor dem Islam als Folge ungelebter eigener Religion durchaus spürbar. Eine "Verdunstung" des eigenen Glaubens gebe es aber auch unter hiesigen Muslimen. Man dürfe nicht vergessen, dass der Islam in der Schweiz eine "Migrationsreligion" sei. Viele muslimische Migranten wüssten eigentlich sehr wenig über ihre eigene Religion und verwechselten gerne aus ihrer Heimat mitgenommene lokale Traditionen mit dem Glauben. In der Fremde werde Religion zur Heimat, und da komme es viel leichter zu einer Radikalisierung, wenn kein Ausgleich dazu vorhanden sei. Rickenmann wies auf die heutige Tendenz in der Schweiz hin, die Kirchen "an den Rand zu schieben". Das werde etwa dann besonders spürbar, wenn diese sich zu aktuellen politischen Fragen äusserten – etwa zu masslosen Managerlöhnen oder zu bioethischen Themen –, und sie dafür von einzelnen Politikern kritisiert würden. Damit werde Religion gezielt in eine private Ecke abgedrängt, was es wiederum beispielsweise jungen Menschen nicht einfach mache, zu ihrem Glauben zu stehen. "Dankbar" müsse man jedenfalls den Muslimen sein, dass die Frage von Religion im öffentlichen Raum in der Schweiz erneut zum Diskussionsgegenstand geworden sei. Bei der Vertretung ihrer Interessen fühlten sich die islamischen Gemeinschaften in der Schweiz "sehr gut" bei den anderen Religionsgemeinschaften aufgehoben, unterstrich Afshar. Problem sei allerdings, dass es hierzulande für eine Migrationsreligion wie den Islam keine "adäquate gesellschaftliche Struktur" gebe, indem die Kompetenzen in der Praxis nicht auf Bundes-, sondern auf Kantons- und Gemeindeebene lägen. Das führe in manchen Fragen – etwa der Friedhöfe – dazu, dass die islamischen Gemeinschaften auch dort auf "Goodwill" angewiesen seien, wo ihnen theoretisch Rechte zustünden. Afshar: "Rechte, die politisiert werden, verwandeln sich zu Privilegien." Die Globalisierung führe aber dazu, dass die Schweiz immer mehr zu einem multikulturellen und multiethnischen Land werde, und das verändere auch das Bewusstsein der Menschen. Die aktuelle Tendenz "Hin zur Religion, weg von den Kirchen" könne von den Kirchen offensichtlich nicht umgekehrt werden, wurde aus dem Publikum festgestellt, und das sei möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die mit der Aufklärung eingeleitete Entwicklung hin zur grösstmöglichen Freiheit des Menschen ohnehin nicht zu stoppen sei. Dem hielt Karrer entgegen, dass die Kirche durchaus zahlreiche positive Elemente der Aufklärung integriert habe. Das überlieferte System der katholischen Kirche sei jedoch zu eng geworden und drohe zu platzen. Es sei "patriarchal und zentralistisch übersteuert" und habe als solches keine Zukunft. Massgeblich mitschuldig am Verdrängen von Religion aus der Öffentlichkeit seien die Medienschaffenden, hiess es in einem anderen Votum aus dem Publikum. Die meisten Journalisten wüssten von Kirche und Glaubensinhalten kaum mehr etwas, was dazu führe, dass das Thema gerne auf die Seite geschoben werde. Und wenn es zur Sprache komme, so geschehe dies oft wenig sachgerecht und mit wenig Fachkenntnis. Diese Meinung blieb allerdings nicht unwidersprochen: Wenn es ein Desinteresse an Fragen von Religion und Kirche gebe, so liege der Grund dafür vor allem bei den Medienkonsumenten selber. Die Medien nähmen nämlich durchaus auf, was das Publikum interessiere.„Schweiz immer noch christlich“
Unwissen birgt Angst in sich
Wo werden Christen aktiv in der Gesellschaft?
Wenig Wissen auch unter Muslimen
Religion wird in private Ecke abgedrängt
Immer multikultureller
Aufklärung geht weiter
Ignorante Medienleute?
Datum: 08.05.2007
Quelle: Kipa