Eine ungewöhnliche Begegnung in einem Gottesdienst im sibirischen Omsk
“Ich glaube ... an die Vergebung der Sünden.” So bekennt es die Christenheit im apostolischen Glaubensbekenntnis. Was das konkret bedeuten kann, darüber berichtet der lutherische Bischof Volker E. Sailer (Omsk), der die Diözese “Ural, Sibirien und Ferner Osten” der lutherischen Kirche in der ehemaligen Sowjetunion betreut. Sailer ist Pfarrer der württembergischen Landeskirche.
Elisabeth (Name verändert) kam aus einem Dorf weit über tausend Kilometer von Omsk entfernt angereist. Sie hatte sich in den Gottesdienst geschlichen, als dieser schon halb vorüber war, setzte sich allein in eine Bank und lauschte gespannt meiner Predigt. Nach dem Gottesdienst kam sie zu mir und sagte: “Ich bin gekommen, meine Sünden abzugeben und das Abendmahl zu nehmen!” Das Erste war leicht, denn die Sünden vergibt schliesslich Jesus. Mir bleibt dabei als Seelsorger nur die Aufgabe, der Beichtenden zuzuhören, mich ihrer Bussfertigkeit zu vergewissern und ihr dann im Namen Jesu die Vergebung zuzusprechen. Aber das Abendmahl sollte es laut Plan erst wieder am nächsten Sonntag in der Gemeinde geben. Was also tun?
In den Ofen gesteckt und verbrannt
Sie erzählte folgendes: “An einem Wintertag vor 28 Jahren ging ich auf den Abtritt (Plumpsklo im Hof). Da entdeckte ich Blutspuren. Ich ging ihnen nach. Sie führten durch den Garten zu einem Hang mit viel Gestrüpp hinter unserem Anwesen. Da lag ein Neugeborenes. Es war schon tot, erfroren oder sonst was. Ich folgte der Blutspur in die andere Richtung. Sie führte mich ins Haus, ins Zimmer unserer Tochter. Sie war einmal im vorherigen Sommer, das wusste ich, mit einem jungen Mann spazieren gegangen. Weil unsere Tochter recht dick war, hat niemand gemerkt, dass sie schwanger war. Sie war naiv und unerfahren. Als sie an jenem Tag auf dem Abtritt war, hat sie wohl das Kind gekriegt. Da es niemand erfahren durfte, hat sie es einfach hinter den Zaun geworfen. Ich holte das Baby, stopfte es in einen alten Sack und habe es in den Ofen gesteckt und verbrannt. Was sollte ich in meiner Verzweiflung anderes machen? Wenn mein Mann etwas von der Schwangerschaft erfahren hätte, er hätte unsere Tochter totgeschlagen, denn er war ein grober Mensch. Nun war ich nicht nur Zeuge einer grausigen Tat geworden, sondern Mittäter. Ich habe aber mit niemanden darüber geredet, mit meinem Mann nicht (er ist schon 25 Jahre tot), mit meiner Tochter nicht und auch mit den anderen Kindern nicht. So weiss es niemand, nur ich. Und diese Last trage ich nun schon über 28 Jahre. Ich will das loswerden und das Abendmahl nehmen, damit ich sterben kann.”
“Ist jetzt alles gut?”
An der Ernsthaftigkeit dieser Schuld und ihrer Beichte hatte ich keinen Zweifel. So durfte ich ihr, weil es ihr leid tat und sie Busse gezeigt hatte, die Vergebung dieser und aller Sünden zusprechen. Nachdem nun Gott eine so grosse Schuld vergeben und zugedeckt hatte, konnte ich nicht anders: Ich musste ihr im russischen Nachmittagsgottesdienst allein das Abendmahl reichen. Bevor sie vom Altar wegtrat, wollte sie noch einmal wissen: “Ist jetzt alles gut?” Ich konnte ihr nur mit dem biblischen Wort antworten: “Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, dann betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.” (1. Johannes-Brief 1,8 und 9).
Datum: 10.07.2002
Autor: Volker E. Sailer
Quelle: idea Deutschland