Ein Jahr nach der Explosion

«Es geht ums tägliche Überleben»

Vor einem Jahr geschah die verheerende Explosion in Beirut. Umgehend war das internationale Schweizerwerk Medair zur Stelle, da die Organisation bereits seit 2012 im Land ist. Anna Chilvers
Beirut nach der Explosion (Bild: Medair)
Anna Chilvers

, Landesdirektorin von Medair in Beirut, gibt im Interview mit Livenet einen Einblick in die Lage vor Ort.

Anna Chilvers, was tut Medair in Beirut?
Anna Chilvers:
Wir sind seit 2012 im Libanon tätig und bieten medizinische Grundversorgung für libanesische und geflüchtete Familien. Im Anschluss an die Explosion hat Medair Wiederaufbauhilfe und psychosoziale Unterstützung für betroffene Familien geleistet.

Was konnte im vergangenen Jahr erreicht werden?
Binnen weniger Tage nach der Explosion haben unsere Teams Notfallkits für Menschen, deren Häuser beschädigt wurden, zur Verfügung gestellt. Die Kits enthielten Dinge wie Plastikplanen, Sperrholz und Werkzeug. Daneben haben wir Freiwillige in psychosozialer Unterstützung für Betroffene geschult. Ab Oktober haben wir dann mit dauerhafteren Reparaturen begonnen. Seitdem haben wir etwa 1000 bei der Explosion beschädigte Häuser wieder in Stand gesetzt und über 9000 Menschen psychosozial unterstützt. Wir arbeiten weiter an der Wiederinstandsetzung von Gemeinschaftsgebäuden wie Schulen und Krankenhäusern in der Nähe des Hafens.

Können Sie ein, zwei Lebensgeschichten mit uns teilen, bei denen Menschen durch Ihre Arbeit verändert worden sind?
Da ist zum Beispiel Saad. Er ist ein älterer Mann und leidet unter Bluthochdruck und Diabetes. Er hat Wunden an den Füssen, die nicht heilen wollen. Bei der Explosion wurde das Haus, in dem Saad lebt, schwer beschädigt. Aufgrund seiner körperlichen Probleme kann er aber kaum sein Zimmer verlassen. Seit die Wirtschaft im Libanon eingebrochen ist, hat er Probleme, an Medikamente zu kommen. «Die Stufen sind das Schwierigste», sagt er. «Ich muss langsam und vorsichtig gehen. Im Winter ist es besonders schlimm, wenn alles nass und kalt ist. Meistens muss mir jemand helfen.»

Bei der Explosion wurden die Fenster von Saads Wohnung beschädigt und er konnte sie nicht reparieren. Abgedeckt hat er sie auch nicht, weil er atmen will. Medair hat die Stufen repariert und Handläufe angebracht, damit Saad sicher das Haus verlassen kann. Seine Fenster wurden ersetzt und nun ist er geschützt vor Regen und Wind. «Ich werde immer dankbar sein für eure Hilfe», sagte er zu unserem Team. «Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass man mich hört. Eure Gegenwart hat mir Hoffnung gegeben.» 

Oder da ist May, sie wohnt in Rmeil, eines der Viertel, das bei der Explosion in Beirut besonders schwer beschädigt wurde. May ist Gemeinschaftsmitarbeiterin und erzählt uns von dem Tag, der ihr Leben veränderte: «Im Libanon am Leben zu sein, ist Luxus. Für mich war es der längste Tag meines Lebens. Wir standen mit ein paar Leuten zusammen bei meinem Haus, als sich die Explosion ereignete. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass ich gerade dabei war, mir ein Glas Wasser einzuschenken. Danach ist alles durcheinander. Ich habe schon viel in meinem Leben gesehen, aber das… ich denke nicht gern zurück an die Explosion. Stattdessen wache ich jeden Tag auf und finde einen Hoffnungsstrahl, um nach vorne zu blicken. Der Wille ist da – aber es wird noch einige Zeit brauchen.»

Medair hat in Beirut den Gemeinschaftsraum repariert, damit May und die anderen Familien in ihrem Haus einen sicheren Raum haben. Daneben wurden Fenster und Türen instandgesetzt und der Garten hinter dem Haus, der bei der Explosion sehr gelitten hatte, wieder begehbar gemacht. «Das Komische ist,» sagt May, «früher haben wir uns getroffen, um zu schauen, wie wir unsere Gemeinschaft verbessern können. Jetzt geht es darum, wie wir einander helfen können. Wir sind mehr zusammengewachsen. Wenn wir nicht unserer Nachbarschaft helfen, wer dann? Für uns im Libanon geht es seit der Explosion nicht mehr um Leben, es geht ums tägliche Überleben.»

Welche Rolle spielt der christliche Glaube im Alltag?
Unsere internationalen Mitarbeitenden sind Christen, unsere lokalen Angestellten dagegen kommen von verschiedenen Hintergründen. Unsere Arbeit unterliegt den Prinzipien der Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit. Unsere Unterstützung ist ausschliesslich bedarfsorientiert.

Welcher Unterschied kann durch den christlichen Glauben erreicht werden?
Als internationales Team gibt uns der Glaube Hoffnung und die Kraft zum Weitermachen. Im Libanon herrscht derzeit grosse Verzweiflung. Die Menschen bekommen kaum das tägliche Essen auf den Tisch und sie fürchten, dass die Lage noch schlimmer wird. Auch wir gehen davon aus, dass sich die Lage weiter verschlechtert, doch wir haben Vertrauen in die verändernde Macht Gottes. Glaube bedeutet, dass wir von den Herausforderungen, die uns jeden Tag begegnen, nicht ins Wanken gebracht werden – und davon gibt es in der humanitären Arbeit viele. Inmitten der Unsicherheit und Verwirrung stehen wir fest und haben inneren Frieden.

Was bewegt Sie persönlich bei Ihrer Arbeit besonders?
Unser Team im Libanon ist fantastisch. Ihre Arbeitsmoral und Leidenschaft, ihr Mitgefühl für die von uns unterstützten Menschen bewegen mich tief. Auch die Begegnungen mit Menschen, die wir unterstützten, sind tief bewegend. Die Widerstandskraft, Entschlossenheit und gegenseitiges Mitgefühl dieser Menschen inmitten schwierigster Umstände, motiviert uns, noch härter für ihre Unterstützung und ihr Überleben zu arbeiten.

Zur Webseite:
Medair

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Datum: 04.08.2021
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet

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