«Der Mann aus Nazareth»
Jesus und seine Zeitgenossen leben unter Gewaltherrschern. Da ist kein Rechtsstaat, keine Gewaltenteilung, kein Gerichtshof, vor dem die Juden die Verletzung ihrer Grundrechte und Exzesse der Ordnungskräfte einklagen könnten. «Jene, die über Völker herrschen, halten sie nieder; die Mächtigen tun ihnen Gewalt an», fasst Jesus einmal die Zustände in den unruhigen Ländern am Ostrand des Römischen Reichs zusammen. (1)
Dem Schwert entkommen
Das Leben des Mannes aus Nazareth beginnt im Zeichen des Schwerts. König Herodes (2) lässt, weil er seinen Thronfolger selbst bestimmen will, die Säuglinge in Bethlehem massakrieren. Joseph und Maria entkommen mit ihrem Sohn nur, weil ein Engel sie alarmierte. (3) Bei Herodes’ Tod atmet das Volk auf – nicht für lange. Der Sohn des Tyrannen, Archelaus, wird wegen seiner übermässigen Härte sogar für die Römer untragbar; seit dem Jahr 6 setzt ein römischer Statthalter den Willen des Kaisers in Jerusalem, Judäa und Samaria durch.
Eine Affäre in Rom
Geschickter als Archelaus hat sich sein Bruder Herodes Antipas verhalten. Er herrscht seit drei Jahrzehnten über Galiläa und ein Gebiet östlich des Jordanflusses (Peräa). Johannes der Täufer hat dort gepredigt und kritisiert, dass Herodes Antipas seine Frau verstossen hat, nachdem er sich bei einem Rom-Aufenthalt in Herodias, die Gattin seines Bruders, verguckt hatte. Das führte zu seiner Einkerkerung. Doch nicht genug: das rachsüchtige Weib, zur Königin erhoben, hat den Kopf des Täufers gefordert und ihn durch eine List auch erhalten. (4)
Kopf und Kragen riskieren?
Jesus hat sich von Johannes taufen lassen und predigt nun in Galiläa. Die Nachricht von der Enthauptung trifft ihn hart: Er steigt in ein Boot, um allein zu sein. (5) Was nun? Verzichtet Jesus darauf, das Regime des Fürsten (6) zu kritisieren, der über seine Heimat regiert? Wenn er ungestört zum Wohl des Volks wirken will, sollte er Aufsehen vermeiden. Wenn nicht, sollte er sich Leibwächter zulegen – es gibt antirömische Untergrundkämpfer, die er nicht zweimal bitten müsste. Doch damit würde er Antipas provozieren, der seine Spitzel hat und mit allen Wassern gewaschen ist. Auch Jesus verfügt über Insider-Informationen. (7)
Der Mann aus Nazareth weicht dem Herrscher aus. Eigenartig: Dieser hat sich mehr als einmal zum eingekerkerten Täufer begeben, damit der ihm predige – und Johannes hat kein Blatt vor den Mund genommen und ihn in die Enge getrieben. (8) Jetzt, da der unbeugsame Mann unter dem Boden ist (die Enthauptung verstärkte den Groll im Volk), möchte Herodes Jesus sehen. Ist etwa Johannes von den Toten auferstanden?, fragt er sich ratlos, als man ihm von den Wundern und den Botschaften des Wanderpredigers erzählt. (9) Würde er auch ein Wunder für ihn tun? (10)
Was will der König hören?
Jesus hätte ihm tatsächlich viel zu sagen. Er verkündigt den Anbruch der Herrschaft Gottes. Gott selbst will mit seiner Liebe und Güte, mit seinen Massstäben und Ordnungen das Leben der Menschen bestimmen. (11) Diese Botschaft stellt alles Herrschen, alle Machtausübung in Frage – und ungerechte, ausbeuterische Machenschaften an den Pranger. Jesus verurteilt zudem, was in der patriarchalischen Gesellschaft seiner Zeit nicht selten geschieht: dass ein Mann seine Frau verstösst, um sich eine andere zu nehmen. (12) Dies trifft Herodes und ärgert Herodias ebenso wie die scharfen Worte gegen die Reichen, die dem Luxus frönen und sich der Armen nicht annehmen. (13)
Immun gegen Einflüsterungen
Auch wenn Herodes Antipas keinerlei Anzeichen für eine gewaltsame Erhebung in Galiläa mit Jesus an der Spitze ausmachen kann – die Popularität dieses Predigers treibt ihn um. Plant er seine Ermordung? Vielleicht hat seine Umgebung von solchen Überlegungen gehört; jedenfalls versuchen Pharisäer (14) Jesus damit einzuschüchtern. Er soll sich in ein Nachbarland absetzen, sich dem Zugriff des Tyrannen entziehen. Jesus gibt den Pharisäern eine denkwürdige Antwort an Herodes mit: «Geht hin und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe böse Geister aus und mache gesund heute und morgen, und am dritten Tage werde ich vollendet sein. Doch muss ich heute und morgen und am folgenden Tage noch wandern; denn es geht nicht an, dass ein Prophet ausserhalb von Jerusalem umkomme.» (15)
Showdown – aber kein Wunder
Diese Sätze zeigen die grosse Distanz, die Jesus gegenüber dem Herrscher hat, und sein Selbstbewusstsein als Prophet. Zum Showdown wird es nicht in Galiläa, sondern in Jerusalem kommen. Jesus wird, auch wenn es Herodes Antipas nicht passt, noch in Galiläa herumziehen. Und Wunder tun, denn die Menschen brauchen Befreiung, Heilung und Zuspruch; darin sollen sie den Anbruch von Gottes Herrschaft erleben. Was der Herrscher von Amtes wegen fördern sollte, (16) wird er bei Jesus nicht verhindern können. Der Mann aus Nazareth, der hier seine Predigttätigkeit bewusst nicht erwähnt, sondern die Wunder hervorhebt, die ihn wie den Täufer als Gottesmann ausweisen, geht seinen Weg und vollendet seine Mission.
Herrscher ohne Gewalt
Jesus ist der König der Juden – in einem Sinn, der weit über den politischen hinausgeht. In ihm kommt die Geschichte jenes Volks zum Höhepunkt, das von Gott erwählt wurde, um der Welt Segen zu vermitteln. (17) Er verkörpert das Gute, das Gott in die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs hineingelegt hat. (18) Und darum hat er auch den Anspruch, über dieses Volk zu herrschen. Aber er begründet diesen Anspruch nicht mit Waffen, sondern mit Worten, die ihm Gott gibt. Er ist der Träger seiner Segensherrschaft, nicht menschlichen Machtstrebens.
Nicht von dieser Welt
«Meine Herrschaft ist nicht von dieser Welt», sagt er Monate später dem römischen Statthalter Pilatus, der ihn verhört. (19) Von den jüdischen Führern herausgefordert, bestätigt er, dass er als Gottes Sohn zum Herrschen bestimmt ist. (20) Pilatus schickt den Galiläer zu Herodes. Jesus schweigt auf alle seine Fragen, tut kein Wunder, macht keinen Versuch, seine Haut zu retten. Herodes lässt ihn verspotten und schickt ihn zu Pilatus zurück. (21) Die Justizfarce nimmt ihren Lauf. Der Mann aus Nazareth endet am Kreuz – um zwei Tage später, von Gott auferweckt, seinen Anhängerinnen und Vertrauten als Herr über Lebende und Tote zu begegnen. (22)
Jahre später sinkt der Stern des Herodes Antipas: Der Vater seiner verstossenen ersten Frau, der Nabatäerkönig Aretas, bekriegt ihn und fügt seiner Armee schwere Verluste zu – worin viele Untertanen die Strafe des Himmels für die Enthauptung des Täufers sehen. (23) Im Jahr 39 – nach über vierzigjähriger Herrschaft – wird der Fürst von seinem eigenen Neffen Agrippa in Rom als Verschwörer verleumdet. Der Kaiser entzieht ihm sein kleines Reich und verbannt ihn nach Lyon.
(1) Die Bibel, Matthäus, Kapitel 20, Vers 25
(2) wegen seiner harten Hand und seiner enormen Bautätigkeit «der Grosse» genannt
(3) Matthäus 2,13-18
(4) Matthäus 14,1-11
(5) Matthäus 14,13
(6) Nach römischer Bezeichnung ein Tetrarch, weil er über einen Teil einer orientalischen rovinz herrschte (Matthäus 14,1 und Lukas 3,19). Markus bezeichnet ihn mit dem Titel, mit der die aramäisch sprechende Bevölkerung ihn ehrte: malka, König (Markus 6,14).
(7) Die Frau des Chuzas, eines hohen Beamten des Herodes, gehört zu seinen Anhängerinnen (Lukas 8,3).
(8) Markus 6,20
(9) Matthäus 14,2
(10) Lukas 23,8
(11) Die Bergpredigt lässt ahnen, mit welcher umstürzenden Wucht die Worte von Jesus die Menschen trafen: Matthäus 5-7, besonders 7,28-29
(12) Matthäus 19,9
(13) Lukas 6,25; 12,15; 16,19-31; 18,24
(14) Vertreter der populärsten, gesetzestreuen Strömung im Judentum, oft im Clinch mit Jesus, Matthäus 23,1-33
(15) Lukas 13,31-33. Wie genau Jesus diese Worte gemeint hat, ist heute schwierig zu bestimmen.
(16) Im Alten Testament wird der ideale König als Hirt beschrieben, Hesekiel 34.
(17) Vgl. die Verheissung an Abraham, 1. Mose 12,3.
(18) Vgl. das Wort an den Knecht Gottes, der Israel ist, in Jesaja 49,3-6
(19) Johannes 18,36. Pilatus lässt ihn als «König der Juden» hinrichten, Johannes 19,15-22.
(20) Matthäus 26,63-64
(21) Lukas 23,6-12
(22) Matthäus 28; Lukas 24
(23) So der jüdische Historiker Flavius Josephus
Datum: 03.08.2011
Autor: Peter Schmid
Quelle: Jesus.ch