Wenn der Wunsch nach dem Jackpot das Leben bestimmt

60000 bis 200000 Menschen, so schätzt Tilman Becker von der Universität Hohenheim, seien in Deutschland süchtig nach dem Automatenspiel. Der Leiter der Fachklinik Römerhaus des Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe, Gotthard Lehner, hält die Zahl der pathologischen Spieler sogar für noch höher.
Automatenspiel

Bis zu 44000 Menschen könnten allein in Bayern betroffen sein, meint Gotthard Lehner. Drei bis zehn Prozent seien Frauen. Sein Haus im Oberallgäu behandelt seit kurzem stationär Männer mit der Diagnose "glücksspielsüchtig". Damit ist das "Römerhaus" in Sulzberg die erste Fachklinik bayernweit, die eine solche Therapie anbietet.

Wenig Spezialkliniken

Glückspielberatungen gibt es in Bayern seit vergangenem Jahr. Ein Ergebnis des "Glücksspielstaatsvertrages", der acht Millionen Euro bis zum Jahr 2011 für die Aufgaben der "Landesstelle Glücksspiel" zur Verfügung stellt. "Es war aber bisher ein Riesenproblem, Spielsüchtige stationär zu behandeln", sagt der Geschäftsführer der Landesstelle, Andreas Czerny. Im gesamten Bundesgebiet gebe es bisher nur eine "handvoll" Spezialkliniken.

24 Stunden im Spielsalon

Drei Monate war er mit der Miete im Rückstand, Schulden hatten sich angehäuft, seine Wohnung war vermüllt. Ständig ratterten durch seinen Kopf die Bilder und Lichter aus den Glückspielautomaten, dudelte die eintönige Melodie dazu. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Klaus Unger (Name geändert) erzählt, er sei mit den Nerven völlig am Ende gewesen. 24 Stunden ununterbrochen im Spielsalon, das war sein trauriger Rekord. "Wenn das Geld weg war, war ich regelrecht erleichtert."

Hilfe gesucht

Philipp Allgeier (Name geändert) hat nach eigenen Angaben 80 Therapeuten angerufen, weil er seine Spielsucht bekämpfen wollte. Keiner habe sich kompetent gefühlt, dem 28-Jährigen zu helfen. Bereits die Hälfte seines Lebens hat er damit zugebracht, Spielautomaten mit Münzen zu füttern. Der jüngste pathologische Glückspieler in der Therapiegruppe hat wie viele seiner Leidensgenossen ein Doppelleben geführt. "Man lügt, man hält geheim, man meldet sich krank, man pumpt die Verwandten an", erzählt er. 15000 Euro hat er Schulden. Er schätzt, dass er im Laufe der Zeit bereits ein Einfamilienhaus verspielt hat.

"Manche verpfänden ihr Erbe im Voraus, klauen dem Bruder die Kreditkarte oder erpressen Freunde, um an Geld zu kommen", berichtet Wolf-Michael Schreiber, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in der Fachklinik Römerhaus. "Wenn dann irgendwann das soziale Umfeld komplett zusammenbricht, dann versuchen viele der Jungs, sich das Leben zu nehmen", erklärt Schreiber. Fast 60 Prozent der Spieler hätten diesen Gedanken. Depressionen trieben auch Philipp im vergangenen Jahr zu einem Suizidversuch. "Ich habe alle Tabletten geschluckt, die ich finden konnte."

Leben ohne Glücksspiel nicht vorstellbar

"Sie haben den Wunsch, irgendwann einmal die Maschine zu kontrollieren", beschreibt Schreiber die spielsüchtigen Patienten. "Sie wollen einmal den Jackpot holen und schwören, dann hören sie auf." Aber ein Leben ohne Glücksspiel sei für sie nicht mehr vorstellbar. Glücksspielsüchtige würden alle Symptome einer Sucht haben, erklärt Lehner. Dazu gehörten auch Ernährungsprobleme, soziale und finanzielle Folgen. Das Spiel erzeuge psychische Wirkungen, die denen des Kokains ähneln sollen. Für viele sei der Spielsalon ein Flucht- oder Betäubungsmittel, um den Problemen im Alltag zu entfliehen, sagt er.

Klaus Unger hatte eine Scheidung hinter sich, als er vor vier Jahren anfing, exzessiv zu spielen. Wenn er Ärger am Arbeitsplatz hatte, flüchtete er in den Spielsalon. "Es war da immer warm, du bekommst kostenlos Kaffee, du lebst in einer anderen Welt, ohne Tag und Nacht", meint er.

In die Realität zurückfuhren

Psychotherapeutin Heike Lassak versucht den Patienten in der Therapie wieder "echtes Leben" zu vermitteln. Gruppen- und Einzelgespräche, Kreativtherapie- und Arbeitstherapie, Sport und Vorträge über den Umgang mit Geld gehören zum Therapiekonzept. "Vor allem lernen meine Patienten, was Kommunikation bewirken kann", sagt Lassak.

"Ich hoffe, dass ich wieder anfangen kann zu leben", sagt Philipp Allgeier. Bei seiner ersten Heimfahrt habe er allerdings zu Hause auf dem Sofa gelegen und nichts mit sich anzufangen gewusst. Er sei froh gewesen, wieder in die Klinik zu kommen. Zwölf bis 16 Wochen dauert die Spielertherapie. Klaus Unger ist einer der ersten drei Entlassenen. "Ich habe jetzt nicht mehr diesen Stress im Kopf", erzählt er lächelnd. Auf seinem Weg in die Arbeit kommt Unger täglich an einer Spielhölle vorbei. "Das reizt mich nicht mehr", behauptet er.

Dem "trockenen" Spielern rät Suchtberater Stefan Becker von der Diakonie in Neu-Ulm dennoch, sich einer Selbsthilfegruppe, wie den "Anonymen Spielern" anzuschliessen. Die Versuchungen locken krankhafte Spieler schliesslich überall. Schon ein Schafkopfspiel um kleine Einsätze hält Becker für "grenzwertig".

Kostenlose Beratung

Wie entwickelt sich diese Sucht und woran erkenne ich, dass ich gefährdet bin? Die Bundeszentrale hat auf ihrem Info-Portal eine neue Chat-Sprechstunde eingerichtet. Jeden Donnerstag zwischen 15 und 17 Uhr können sich Besucher von einer Therapeutin einzeln, anonym und kostenlos beraten lassen.

Mehr zum Thema:
Uwe Heimowski: Von der Spielsucht befreit. Abhängigkeiten und Süchte sind oft Hilfeschreie von Menschen, die auf der Suche nach dem Sinn des Lebens sind. Uwe Heimowski hat alle Phasen der Spielsucht erlebt: Schulden, Betrügereien und Selbstmordgedanken bestimmten sein Leben bis zu dem Moment, in dem er einen Ausweg fand.

Datum: 28.10.2009
Quelle: Livenet / epd

Werbung
Livenet Service
Werbung