Der kleine Mann und sein grosser Gott
Der Schlüssel? Anton Schulte (80) muss nicht lange überlegen. „Liebe zu Gott und Liebe zu den Menschen.“ Das sind für ihn ohne Zweifel die wichtigsten Eigenschaften, die ein Evangelist besitzen muss, wenn er mit Menschen über Jesus Christus ins Gespräch kommen will. „Und Humor. Zumindest hilft es sehr, wenn man ihn hat.“
Einer wie er muss es wissen. Bereits als junger Mann hatte der einstige Müllergeselle aus Bottrop die Leidenschaft, anderen Menschen den Glauben nahe zu bringen. Kaum einer hat seit den frühen Nachkriegsjahren bis weit in die 80er vor mehr Menschen im deutschsprachigen Raum über Gott gesprochen als er: auf Marktplätzen und in Kongresshallen, in Radio und Fernsehen, durch Zeitschriften und Bücher.
Der Gottes-Mann
Eine Portion himmlischen Humor konnte Anton Schulte bereits zu Beginn seines Lebens als Christ gebrauchen. Auswandern wollte er, weg aus Europa, weg von Krieg und Armut. Neuseeland lockte. „Doch dann sprach Gott.“ Es war ein verregneter Mittwochabend im November 1948 als er, ein deutscher Kriegsgefangener, auf einer Farm in Schottland in seinem Zimmer saß und alle eigenen Lebenspläne ad acta legte. „Herr, ich möchte für dich da sein und dahin gehen, wohin du mich sendest“, hatte er gebetet. Die Antwort kam prompt. „Danach begann ich, für meine Angehörigen zu beten. Und mit einem Mal betete ich für die Menschen meiner Heimat und alle anderen, die die deutsche Sprache sprechen. Da wusste ich: Ich muss nach Deutschland gehen und den Menschen sagen, was Jesus mir bedeutet. Das ist Gottes Plan für mein Leben“, erinnert er sich.
Gott. Nicht immer hatte der im Leben des jungen Mannes etwas zu sagen gehabt. Erst wenige Wochen zuvor war er schottischen Christen begegnet, hatte angefangen, mit ihnen über den Sinn des Lebens zu diskutieren, hatte Gott angezweifelt und bekämpft. Doch als dann in einer Predigt der Satz „Du brauchst Jesus!“ fiel, da wusste der damals 23-Jährige, dass Gott „mich, mich und keinen anderen meinte“. Jahrelang war er, obwohl „von lieben Eltern“ katholisch erzogen, Atheist gewesen. Und jetzt vertraute er stammelnd mit einem simplen „Yes“ Jesus Christus sein Leben an.
Der Medien-Mann
„Wenn ich heute an Deutschland denke, bedrückt mich am meisten das falsche Bild vom Glauben, das viele haben“, sagt Anton Schulte. Aber er sieht auch Aufbrüche und offene Türen, die es noch nicht gab, als er 1949 in seine Heimat zurückkehrte. Darum freut er sich außer über glaubwürdige Christen, die „keine Angst vor einer säkularisierten Gesellschaft haben“, besonders über evangelistische Projekte wie ProChrist, Christival, Bibel TV oder die „Willow Creek“-Bewegung. Weil sie auf dem Weg hin zu den Menschen „den Mut haben, alte Strukturen aufzubrechen, zu verändern und zu erneuern“.
Wenn es um neue Wege ging, war er immer vorn dabei. Zu weit vorn für manchen. So war er gerade frisch verheiratet und hatte er sich mit seiner Frau Hermine im Westerwald niedergelassen, als ihm Anfang der 50er-Jahre eine Idee kam: Nahezu in jedem deutschem Haushalt stand ein Radio. Warum also dieses Medium nicht zusätzlich zu Evangelisationen in Zelten und auf Marktplätzen für das Evangelium nutzen? Zunächst stieß er auf verschlossene Türen, auch wenn nach einigen Anlaufschwierigkeiten am 4. Dezember 1953 über Radio Monte Carlo seine erste Predigt über den Äther gegangen war. Keine christliche Organisation wollte ihn in seinen Ambitionen unterstützen. „Einen so bunten Vogel mit so vielen Ideen hat man nicht so gerne.“ Selbst „Jugend für Christus“, wo er nach seiner theologischen Ausbildung auf der Bibelschule Wiedenest eine Anstellung gefunden hatte, sah die eigenen Aufgabenschwerpunkte woanders. Man trennte sich freundschaftlich.
„Der westfälische Dickkopf“ machte auf eigene Faust weiter. Radio Monte Carlo wollte die Zusammenarbeit mit ihm fortsetzen, denn die Sendungen kamen gut an. „Erst erhielten wir elf, dann 16, später 700 Briefe wöchentlich.“ Weil man einen rechtlichen Rahmen benötigte, gründete Anton Schulte mit sechs weiteren Personen 1954 kurzerhand den „Verein evangelistisches Jugendwerk“, der später in „Neues Leben“ umbenannt wurde. Motto: „Evangelisation unter Verwendung aller technischen Möglichkeiten.“ So lautet bis heute die Maxime des Vereins. Und so entstand im Laufe der Jahre neben der Evangelisationsarbeit in Zelten und Kongresshallen und der Radioarbeit eine ausgedehnte Schriftenmission. Traktate wurden gedruckt und verteilt, ab 1956 wurde die Zeitschrift „Neues Leben“ herausgegeben. Schallplatten mit Glaubensgrundkursen vertieften vorangegangene Evangelisationen. Die Telefonkurzpredigt, die in verschiedenen Städten installiert war, hörten sich innerhalb weniger Jahre zwei Millionen Menschen an. Und 1986 fiel schließlich der Startschuss für die Neues Leben-Fernseharbeit, deren heutige Magazin-Sendung „Hautnah“ zum Beispiel wöchentlich auf Bibel TV ausgestrahlt wird.
Die Zukunft für evangelistische Medien sieht der 80-Jährige „stark im Internet oder auch im Einsatz von DVDs“. „Aber nur so lange, bis etwas Neues kommt“, lacht er. Bei aller Offenheit für Technik wird sie für ihn jedoch nicht zur Hauptsache. „Das Entscheidende ist immer die geistliche Vollmacht des einzelnen Mitarbeiters.“ Er selbst verbringt täglich viel Zeit im Gebet und mit dem Lesen der Bibel. „Diese innige Gemeinschaft mit Gott ist die größte Stärke in meinem Leben gewesen.“
Der Team-Mann
Mitarbeiter hatte Anton Schulte in den vergangenen Jahrzehnten viele. Heute beschäftigen die einzelnen Zweige der Neues Leben-Gruppe insgesamt fast 100 Mitarbeiter, vom Evangelisten bis zur Bürokraft, hinzukommen etliche ehrenamtliche Helfer. Leicht war es nicht immer, die Verantwortung für so viele Menschen zu tragen. Da blieb manche Nacht ohne Schlaf. Besonders, wenn es schicksalhafte Entscheidungen zu treffen gab, „die mir selbst sehr wehtaten“. Er sei von viel zarterer Haut, als die meisten Menschen vermuteten.
„Bei Neues Leben kam immer erst der Auftrag und dann die Organisation“, erklärt der Evangelist. Deshalb fanden neben ihm auch viele andere kreative Köpfe Raum für ihre Ideen. Die Kindermissionarin Ruth Frey zum Beispiel baute eine große Kinderarbeit auf. Der Pastor und Motorradprofi Helmfried Riecker gründete unter dem Dach von Neues Leben die sportmissionarische Arbeit „SRS pro Sportler“. Herbert Müller, damals Geschäftsführer von Neues Leben, begann in den Siebzigern mit dem „Urlaub unter Gottes Wort“, einer Arbeit, die später „Neues Leben Reisen“ verantwortete. Heute beheimatet die Neues Leben-Gruppe weitere eigenständige Vereine für die Arbeit in Österreich, der Schweiz, Kanada, Südamerika und Indonesien. Die Selbstverwaltung einzelner Arbeitsbereiche war immer schon Schultes erklärtes Ziel. Denn „so können wir unserem Auftrag am besten nachkommen“.
Als 1985 auch noch ein staatlich anerkanntes Theologisches Seminar unter dem Dach von Neues Leben eröffnet werden konnte, erfüllte sich ein weiterer großer Traum des Evangelisten. Schon bei der Einweihung des Neues Leben Zentrums 1973 habe ihn der Gedanke an eine bibeltreues Studienzentrum bewegt.
Bis heute hat für Anton Schulte die Schulung von Christen oberste Priorität, wenn es um die Durchdringung der Gesellschaft mit dem Evangelium geht: „Die zurzeit wichtigste Aufgabe ist die theologisch-geistliche Ausbildung von Evangelisten und Pastoren, damit eine kommende Erweckung nicht sofort durch unbiblische, gesetzliche Praktiken oder geistliche X-Beliebigkeit Schaden nimmt. Und auch berufstätige Christen müssen nebenberuflich zu Gemeindegründern, Hirten und Lehrern ausgebildet werden.“
Schweres und Schönes
Gab es bei so viel Einsatz nicht auch manche Fehlentscheidung? „Sicher, die gab es auch. Wer viel bewegt hat, hat dabei auch so manchen ungewollten Fehler gemacht“, gesteht Schulte freimütig ein. „Wäre da nicht die Gnade Gottes, müsste auch ich verzweifeln.“
Wie ist er mit Kritik umgegangen? Wenn es ernsthafte Kritik gab, sagt er heute, habe er die Fehler zuerst bei sich gesucht, und seine Motive durchforscht. Er sei „ein bußbereiter Mensch“. Doch manche Kritik sei lächerlich gewesen, weshalb er häufig einfach „mitgelacht“ habe. Oft war er „den Frömmlern nicht fromm genug“ und „den liberalen Theologen als Evangelikaler zu bibeltreu“. „Wer den Kopf so weit zum Fenster raus hält wie ich, muss damit rechnen, dass die Leute tratschen.“
Sehr wehgetan hat ihm allerdings der Stil einer Auseinandersetzung Mitte der 90er-Jahre, als es zu einer - zum Teil hausgemachten - Finanzkrise bei „Neues Leben Reisen“ kam. „In so einer Situation demütig zu sein und die eigenen Fehler zuzugeben ist das eine. Sich von Verleumdungen und Feindseligkeiten nicht erschrecken zu lassen, geistlich damit umzugehen und nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen ist das andere.“ Den Konflikt jener Zeit wertet er als eine der „erschütternsten geistlichen Erfahrungen meines Lebens“.
Lieber als an Krisen erinnert sich Anton Schulte natürlich an die schönen Momente seines Lebens. Und von denen gab es viele. Wenn seine Worte über Jesus Christus und sein Versöhnungswerk den Weg in die Herzen seiner Zuhörer fanden und für diese ein neues Leben mit Gott begann, dann war er glücklich. Dass dazu auch seine Geschwister und vor allem seine Kinder und Enkelkinder zählen, ist für ihn nicht selbstverständlich. Er nennt es „Gottes großes Geschenk an einen Evangelisten, der seine Kinder zum Teil durchs Telefon erzogen hat.“
Vor 15 Jahren schon hat er sich aus der verantwortlichen Leitung des Werkes zurückgezogen, sind seine Söhne Peter und Wilfried in seine Fußstapfen getreten. Heute leiten sie, zusammen mit weiteren Mitarbeitern, die Geschäfte des Mutterwerkes und geben auch geistlich den Kurs vor.
Hat ein 50 Jahre altes Missionswerk überhaupt noch Zukunft? Solche Fragen sieht Anton Schulte mit Gelassenheit. Von Anfang an war er der Überzeugung, dass ein Werk wie Neues Leben nur ein Dienstleistungsbetrieb für die christlichen Gemeinden vor Ort ist. „Die Gemeinde ist das eigentliche Gebäude. Ein Missionswerk ist nur so etwas wie ein Gerüst, das beim Aufbau der Gemeinden einen vorübergehenden Dienst leistet.“
Flexibilität heißt für ihn darum das Schlüsselwort. „Jede Arbeit, die Gott dienen will, muss sich von Zeit zu Zeit hinterfragen, entrümpeln und neues Land einnehmen. Sonst wird sie brüchig, alt, morsch und marode.“ Dazu komme die unbedingte Treue zu Gott: „,Gott allein die Ehre!’ Wenn das die Einstellung ist, kann der Herr das Werk auch weiterhin führen.“
Evangelist im Unruhestand
Heute lebt Anton Schulte mit seiner zweiten Frau Heidi – nach Kräften immer noch missionarisch engagiert - auf der Kanaren-Insel Lanzarote. Dass er mit 67 Jahren noch einmal heiraten würde, daran wollte er nach dem Tod von Hermine nicht einmal denken. 36 Jahre lang waren sie glücklich gewesen und die Trauer und Einsamkeit der folgenden Jahre brachten ihn oft an seine Grenzen. Doch im Rückblick begreift er, wie kostbar auch diese Erfahrung trotz des tiefen Schmerzes war. Besonders von seiner Familie habe er damals derart viel Liebe erfahren, dass es „Unrecht wäre, wenn ich mich über diese Zeit beschweren würde“.
Nach einigen Jahren Witwerdasein heiratet er im Dezember 1991 die ebenfalls verwitwete Heidi Kühnel. Auf der Hochzeitsanzeige steht: „Eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“
Wenn seine immer häufiger angeschlagene Gesundheit es zulässt, predigt er. In Gemeinden auf Lanzarote oder im Radio. Drei Jahre lang erklärt er täglich das Evangelium auf „Radio Europa“, dem einzigen deutschsprachigen Sender auf Lanzarote. Daneben gehört seine Kraft heute vor allem der Arbeit von Neues Leben Indonesien. Regelmäßig besucht er die Schule von Neues Leben im Armenviertel von Cimahi auf Java. Und sammelt Geld, damit Lehrer und Schulplätze finanziert werden können.
Darüber hinaus hat er nur wenige Wünsche. Außer, dass Gott ihm „eine größere Gelassenheit in Bezug auf seine vielen Ideen schenkt“. – Nach so einem bewegten Leben – was sollen die Menschen da später einmal über ihn sagen? „Ich weiß nicht“, sagt der „Sonnenschein Gottes“ bescheiden. „Vielleicht das: Er war nur ein kleiner Dicker, aber er hatte einen großen Gott.“
Datum: 20.08.2005
Autor: Sabine Müller
Quelle: Neues Leben