Anlaufstelle «Nemo»

Auf der Suche nach Wärme

Missbrauch und Gewalt in der Familie, Zugehörigkeit zu einer Subkultur, Suchtprobleme. Die Gründe, weshalb Jugendliche auf der Strasse landen, sind vielfältig. Die Notschlafstelle «Nemo» nimmt junge Obdachlose für einige Nächte auf.
Ein offenes Ohr: Gespräche mit jugendlichen Obdachlosen gehören zum Alltag von Pfarrer Roy Gerber in der Notschlafstelle.

Auf der Strasse sind sie nicht leicht zu erkennen, sie sind auch in keiner Statistik erfasst – und doch gibt es sie: Junge Menschen ohne Obdach. Sonst wären die sechs Plätze im «Nemo» in Zürich, einer Notschlafstelle für obdachlose Jugendliche, nicht stets zum grössten Teil belegt.

Warum landen Jugendliche auf der Strasse? Roy Gerber, Leiter im «Nemo», erzählt. Der grösste Teil der 16- bis 20-Jährigen, die hierher kommen, hätten Gewalt und Missbrauch erlebt und seien deshalb von zu Hause ausgerissen. «Sie übernachten anfangs bei Freunden. Wenn das nicht mehr geht, sind sie in Zügen oder Trams unterwegs, schlafen am Flughafen oder gehen nachts stundenlang umher.»

Diese Jugendlichen haben nicht nur ihr Zuhause verloren. Gemäss Gerber sind viele auch aus Schule oder Lehre geflogen, haben horrende Schulden oder sassen monatelang in Untersuchungshaft. Schockierend sind die Schicksale von Mädchen, die von Menschenhandel und Zwangsprostitution betroffen sind. Menschen, bei denen Gerber sich manchmal wundert, dass sie noch am Leben sind.

Ringen um eine Zukunft

Im «Nemo» erhalten die in Not geratenen Jugendlichen ein warmes Bett, Frühstück und Abendessen. Die Mitarbeiter der Notschlafstelle führen ausserdem seelsorgerliche Gespräche mit den Obdachlosen. Doch das «Nemo» ist kein Ort, an dem die jungen Männer und Frauen länger bleiben können. «Unser Ziel ist es, den Jugendlichen so schnell wie möglich weiterzuhelfen», erklärt Gerber.

Auf der Suche nach einer dauerhaften Unterkunft steht Pfarrer Gerber in Kontakt mit politischen Gemeinden und Organisationen. Die Vermittlungsarbeit sei schwer. Immer wieder treffe er auf Desinteresse und Überforderung. Für Jugendliche, die bei keiner Gemeinde mehr angemeldet sind, müsse er besonders kämpfen. So dauert es auch unterschiedlich lange, bis Anschlusslösungen gefunden werden.

Manche Jugendliche bleiben nur zwei bis drei Nächte, andere länger. Etliche finden im Anschluss Platz in einer Wohngemeinschaft. Andere müssen in ein Heim oder in eine psychiatrische Klinik. «Die beste Lösung wäre es jedoch, wenn die Jugendlichen in vorbereitete, intakte Familien kämen und dort ein liebevolles Familienleben erleben könnten», davon ist Roy Gerber überzeugt. Denn genau das ist es, was der grösste Teil der obdachlosen Jugendlichen vermisst: «Liebe, Ermutigung und Geborgenheit.»

An die dunklen Orte gehen

Obwohl die Notschlafstelle «Nemo» manchmal an ihre Grenzen kommt, meint Gerber: «Es braucht nicht mehr Angebote, nicht nochmals ein Hilfswerk oder noch mehr Sozialarbeiter.» Stattdessen wünscht sich der Leiter der Notschlafstelle «ein Aufwachen der gläubigen Menschen». Von Christen erwartet Roy Gerber mehr Bereitschaft, «an die dunklen und traurigen Orte zu gehen – im eigenen Leben und in der Nachbarschaft».

Nicht jeder müsse nach Zürich an die Langstrasse kommen. Wer den Blick einmal von den eigenen Problemen löse, finde überall Menschen in Not. Nebst Privatpersonen sollten auch Kirchen den Status quo nicht einfach so hinnehmen, sondern einen stärkeren Fokus auf Barmherzigkeitsdienste legen. Es sei wichtig, über soziale Probleme zu sprechen. «Gewalt, Missbrauch, Zwangs- und Kinderprostitution dürfen nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden», fordert Roy Gerber.

Dieser Artikel wurde freundlicherweise von «idea Spektrum Schweiz» zur Verfügung gestellt.

Datum: 15.02.2013
Autor: Simone Pflüger
Quelle: ideaSpektrum Schweiz

Werbung
Livenet Service
Werbung