Wycliffe-Chef Hannes Wiesmann

«Wir wollten das Buch nicht verhindern»

Christina Krüsi beschreibt im Buch «Mein Paradies war die Hölle», wie sie in Bolivien auf einer Missionsstation vergewaltigt wurde (wir berichteten). Nun erklärt Hannes Wiesmann, Leiter von Wycliffe Schweiz, dass Übergriffe in diesem Ausmass mit den heutigen Massnahmen zum Kinderschutz kaum mehr geschehen würden. Und warum sie nicht versucht haben, das Buch zu verhindern.
Hannes Wiesmann

Hannes Wiesmann, wie haben Sie, respektive Wycliffe Schweiz, reagiert, als die Übergriffe bekannt wurden?
Hannes Wiesmann: Die Vorfälle sind in den 1970er Jahren passiert. Bekannt wurden sie im Jahr 2003, als sich Opfer der Vorfälle an unsere Partnerorganisation SIL wendeten*. Ich war nicht Empfänger dieser Information. SIL und Wycliffe leiteten dann eine umfangreiche Untersuchung ein, die in über 200 Interviews alle Personen einbezog, die damals auf der Station arbeiteten. Dieser Prozess war für alle Beteiligten extrem schmerzhaft und dauerte rund zwei Jahre.

*Krüsis Familie war auf einer Basis der Wycliffe-Partnerorganisation «SIL International» stationiert, einfachheitshalber «Wycliffe» genannt.

Was geschah nach diesem Prozess?
Wir erarbeiteten umfangreiche Kinderschutzmassnahmen. Drei Elemente sind besonders wichtig: Erstens, Zero Toleranz. Wenn jemand des Kindsmissbrauchs überführt wird, wird die Person fristlos entlassen und angezeigt. Zero Toleranz gilt auch für Bewerber: Wir prüfen den Strafregister-Auszug. Ist da ein Eintrag in diesem Bereich, ist dies das Ende der Diskussion. Wir hatten vor einiger Zeit tatsächlich einen solchen Bewerber und sagten umgehend ab, als wir einen entsprechenden Eintrag sahen. Wenn man die Probleme und Leiden sieht, die ein Übergriff auslöst, dann will man das auf jeden Fall verhindern.

Der zweite Punkt ist die Schulung der Mitarbeiter. Alle unsere Mitarbeiter müssen eine Schulung durchlaufen, wo sie für Kinderschutz sensibilisiert werden. Sie lernen dort zum Beispiel, wie sie reagieren sollen, wenn ein Kind von einem Vorfall spricht. Zudem werden auch die Kinder besonders geschult. Sie machen sich Gedanken darüber, was eine gute Berührung ist, was nicht und was sie bei schlechten Berührungen tun sollen; im Zweifelsfall zu jemandem gehen und etwas sagen.

Und als Drittes sind wir vernetzt mit Organisationen, die im Kinderschutz tätig sind. In der Schweiz ist das mit der Fachstelle «mira» und international mit dem «Child Safety and Protection Network», bei dessen Gründung wir mitgeholfen haben.

Sind die Täter noch bei Wycliffe?
Als die Übergriffe bekannt wurden, arbeiteten sie bereits alle nicht mehr für die Organisation. Durch ein Missverständnis meinte eine Frau jedoch, sie seien immer noch für das Werk tätig. Sie schrieb einen geharnischten Brief, in welchem sie ausdrückte, dass wir uns schämen sollten. Ich schrieb zurück, dass ich das so stehen lassen kann. Es ist wirklich etwas geschehen, das eine Schweinerei ist. Das kehren wir nicht unter den Teppich. Wir haben jedoch zeitnah reagiert und alles Erdenkliche getan, damit es nie wieder passiert.

Wie würde eine solche Situation heute verlaufen?
Wenn man in den 1970er-Jahren gewusst hätte, was man heute weiss, hätte man die Täter höchstwahrscheinlich viel früher abfangen können... Wir hoffen, dass durch die Sensibilisierung das Kind den Mut erhält, darüber zu reden. Das ist übrigens ein Fall, bei dem wir dem Kind empfehlen, notfalls auch zu «lügen»: Es darf dem Täter sagen, dass es niemandem etwas sagt – und es dann trotzdem tun. Im Buch beschreibt Christina, wie massiver Druck auf sie ausgeübt wurde, nichts zu sagen.

Wie entwickelte sich die Situation mit Christina Krüsi auf Wycliffe-Seite?
Was bei Bekanntwerden und bei der Aufarbeitung ab 2003 genau geschah, weiss ich nicht, weil ich nicht dabei war. Der Personalverantwortliche von SIL nahm in Amerika den Fall entgegen. Heute gibt es ein eigenes Büro, das einen solchen Fall behandeln würde. Intern wurden dann Massnahmen ausgearbeitet, sowohl international als auch bei uns in der Schweiz. Wir haben Christina Krüsi auch unser tiefstes Bedauern ausgedrückt.

Dann war es bei uns lange Zeit still um diese Angelegenheit, bis wir anfangs Jahr von einem Freund hörten, dass Christina Krüsi dabei ist, dieses Buch zu schreiben. Ich meldete mich umgehend bei ihr und sagte, dass dieses Buch auch uns betrifft und ich froh wäre, wenn wir miteinander reden könnten. Wir trafen uns bald darauf. Ich sagte von Anfang an: «Ich will an der Öffentlichkeit nicht über den Inhalt des Buches diskutieren.» Mir war wichtig auszudrücken, dass wir beim Kinderschutz auf der gleichen Seite des Problems stehen. Und sie betonte, dass sie mit diesem Buch nicht Wycliffe schaden wolle.

Sie haben nicht versucht, das Buch zu verhindern?
Wir erhielten tatsächlich von jemandem den Rat – nicht von einem Mitarbeiter –, das Buch zu verhindern. Das war für uns aber zu keiner Zeit ein Thema! Hätten wir das versucht, hätten alle nur verloren.

Natürlich erzählt das Buch eine Geschichte, die uns als Organisation nur beschämen kann. Anderseits denke ich, dass wir bei unserer Antwort auf diese Vorfälle nichts zu verbergen haben. Wenn jemand weiss, wie wir unsere Kinderschutzmassnahmen noch verbessern können, nehmen wir Vorschläge gerne entgegen.

Im Buch schreibt Christina Krüsi, dass diese Massnahmen vorbildlich sind…
Diese Aussage freut uns natürlich sehr. Die Grundlagen für die Massnahmen wurden von SIL erarbeitet. Wir haben diese als Vorlage für unsere Massnahmen genommen. Verschiedene andere Organisationen im Umfeld der «Arbeitsgruppe Evangelischer Missionen» (AEM), wie auch der «Schweizerischen Evangelischen Allianz» (SEA), haben sich bei ihrem Kinderschutz dann an unseren Richtlinien orientiert.

Datum: 06.07.2013
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Jesus.ch

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