Aus John Rawls Nachlass

Der Glaube eines Philosophen

Auch über Philosophen erfährt man gern Persönliches. Zum Beispiel, ob dieser oder jener atheistische Denker sich auf dem Totenbett nicht doch noch zu einer Religion bekannt hatte. Bei John Rawls machte man posthum eine entsprechende Entdeckung.
John Rawls.

Jetzt, wo die Wiederkehr der Religion ausgerufen wird, fragt man sich, woran die Denker des «Jahrhunderts der Extreme» im Grunde ihres Herzens geglaubt haben, räsonniert das «Deutschlandradio». John Rawls, der einflussreichste politische Theoretiker des 20. Jahrhunderts, hatte sich jedenfalls in keinem seiner publizierten Werke systematisch mit Fragen der Religion auseinandergesetzt. Auch darüber, wie er es persönlich mit dem Glauben hält, wurde stets Diskretion bewahrt.

Unveröffentlichter Text gefunden

Aber die Neugierde Aussenstehender blieb. Sie mag mitgespielt haben, als der Philosoph Thomas Nagel sich an die Herausgabe eines späten und noch unveröffentlichten Kurztextes machte. Er trägt den Titel «Über meine Religion». Nagel fand ihn auf der Festplatte des 2002 verstorbenen des Autors.

Im Nachlass fand man ausserdem eine 70-seitige Bachelor-Arbeit: «Eine kurze Untersuchung über die Bedeutung von Sünde und Glaube». Der Philosoph hatte sie im Alter von 21 Jahren verfasst, und sie war mit nicht weniger als 98 von 100 Punkten bewertet worden.

Die frühe Arbeit zeigt einen brillanten Studenten mit enormer Kenntnis sowohl der philosophischen als auch der theologischen Tradition. Er widmet sich in diesem Werk dem klassischen Versuch, religiöse Überzeugungen als nicht verhandelbare Bestandteile einer echten menschlichen Gemeinschaft zu verteidigen. Politik, Ethik und Theologie, so die zentrale These, haben ein gemeinsames Ziel: mit der Sünde – dem Bösen – in der Welt fertig zu werden.

Verteidigung des Glaubens

Die Bachelor-Arbeit des damals 21-jährigen Philosophen ist eine einzige Verteidigung des Glaubens, mit Witz geschrieben und von grosser Gelehrsamkeit. Rawls ist überzeugt, dass die Sünde ebenso wie das gute Werk immer in «Gemeinschaft» – das ist das Zauberwort des Essays – mit Gott vollzogen wird.

Ein späterer Text von 1997 ist das aufschlussreiche Gegenstück – fast so etwas wie eine Abschiedsrede. Rawls erzählt, wie er im Krieg seinen jugendlichen Glauben verlor. Aber der Grundzusammenhang, den er im Jugendwerk aufstellte, bleibt erhalten: Die Kontinuität unserer vernünftigen Urteile, ohne die unser Denken zusammenbricht, «lässt nichts anderes zu, wie fromm auch immer es scheinen mag, alles dem göttlichen Willen zuzuschreiben».

Weitläufige Karriere

John Borden Rawls wurde am 21. Februar 1921 in Baltimore, USA geboren und starb am 24. November 2002 in Lexington. Er schloss die berühmte episkopalische Privatschule in Kent im Jahr 1939 ab und machte vier Jahre später seinen Bachelor of Arts an der Princeton University. Darauf folgte die Doktorwürde in Philosophie und seine Lehrzeit in Princeton. Von 1952 bis 1953 erhielt er ein Fulbright-Stipendium für die englische Universität Oxford.

Anschliessend arbeitete er als «Assistant» und als «Associate»-Professor an der Cornell-Universität in Ithaca, New York, bevor er ab 1962 dort Ordentlicher Professor wurde. Von 1970 bis 1972 war er Präsident der «American Association of Political and Social Philosophers».

In dieser Zeit entstand sein Hauptwerk «A Theory of Justice». 1974 wurde er Präsident der «Eastern Division of the American Philosophical Association», von 1979 an lehrt er Philosophie an der Harvard Universität in Cambridge. Sein Werk «Political Liberalism» entstand 1993.

Literaturhinweis:
John Rawls: Über Sünde, Glaube und Religion, herausgegeben von Thomas Nagel, Nachwort von Jürgen Habermas, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2010

 

Datum: 04.11.2010
Quelle: Deutschlandradio, Bearbeitung: Jesus.ch

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