Über den Umgang mit der Zeit

Zwischen Armbanduhr und Ewigkeit

Was ist die Zeit? «Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es; wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiss ich es nicht.» (Augustinus, Bekenntnisse, Buch XI) Wer von uns hätte nicht schon über das Wesen der Zeit nachgedacht, die uns auf so geheimnisvolle, ganz unterschiedliche Weise begegnet. Bei dem Versuch, sie zu erklären, sind auch die klügsten Geister nicht weiter gekommen als Augustinus. Denn die Zeit ist eine elementare Grundwirklichkeit. Um sie zu definieren, müssten wir noch einfachere Realitäten kennen. Solche aber stehen unserem Denken nicht zur Verfügung. Die Zeit hat viele Seiten: eine physikalische, eine philosophische, eine psychologische, eine praktische und eine geistliche, um nur einige zu nennen. Die physikalische Seite In der Physik definiert man die Grundgrössen durch Messverfahren. Danach ist Zeit das, was die Uhren messen. Die klassische Physik verband damit die Vorstellung einer absoluten Zeit, die im Universum prinzipiell überall die gleiche ist, unabhängig davon, wie sie beobachtet wird. Seit der Einsteinschen Relativitätstheorie wissen wir jedoch, dass dies nicht zutrifft. Zeit und Raum sind durch Naturgesetze so miteinander verknüpft, dass erstere nicht absolut ist, sondern sozusagen von der Bewegungsgeschichte der jeweiligen Uhr abhängt. Doch auch mit diesen Erkenntnissen ist die Suche nach dem physikalischen Zeitbegriff noch keineswegs beendet. Was die Zeit letztlich ist, wissen heute nicht einmal die Physiker. Die philosophische Seite Auch in der Philosophie wurde immer wieder versucht, das Wesen der Zeit zu bestimmen. Die eine Richtung erklärte die Zeit zu einer objektiven, empirisch zu beobachtenden Grösse der Natur. Eine andere Richtung sah die Zeit als ein Phänomen an, das sich subjektiv im menschlichen Bewusstsein abspielt. Erst Immanuel Kant versuchte eine Synthese zwischen beiden Auffassungen, indem er die Zeit zu einer «reinen Form der sinnlichen Anschauung » erklärte. Sie ist bei ihm eine der zwölf so genannten Kategorien, also einer der Grundbegriffe, die das Denken voraussetzt, um überhaupt Aussagen über Wahrnehmungen machen zu können. Etwas einfacher ausgedrückt: Die Zeit ist gewissermassen das Papier, auf dem unser Bewusstsein die wahrgenommenen Ereignisse einträgt, um sie denkend ordnen zu können. Auch bei diesem Zeitbegriff ist die Philosophie nicht stehen geblieben. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Martin Heidegger (1899-1976) die Existenz des Menschen als «Sein zum Tode» definiert. Er formulierte in seinem Hauptwerk «Sein und Zeit» in diesem Zusammenhang tiefsinnige, neuartige Analysen des Verhältnisses des Menschen zur Zeit. Nach Heidegger ist der Tod ein Fallen in das Nichts, vor dem der Mensch Angst hat. Diese Angst gilt es in eine bewusste, den Tod nicht verdrängende, ureigenste Zunkunftsplanung umzusetzen. Angesichts des täglich schrumpfenden persönlichen Zeithorizonts gilt es dann, diesen Lebensentwurf konsequent zu verwirklichen und dadurch die eigentliche Existenz zu finden. Ein paar Jahrzehnte lang war dieser Ansatz Heideggers der vorherrschende. Doch ist die Philosophie nicht bei ihm stehen geblieben, sondern sie hat die Frage nach der Zeit immer wieder neu aufgeworfen. Was Zeit wirklich ist, weiss auch heute die Philosophie nicht abschliessend zu erklären. Die psychologische Seite Besonders interessant sind die verschiedenen psychologischen Erkenntnisse über das Zeiterleben. So wurde experimentell festgestellt, dass zwei auf einander folgende Ereignisse einen zeitlichen Mindestabstand benötigen, um vom Menschen noch als getrennt wahrgenommen zu werden. Die Erinnerung verzerrt die Länge einzelner Zeiträume je nach der Fülle oder dem Mangel von persönlich bedeutsamen Ereignissen. Bekannt ist der subjektive Eindruck, dass die Zeit scheinbar umso schneller vergeht, je älter ein Mensch wird. Eine nahe liegende Erklärung dafür scheint jedoch noch nicht Eingang in die Lehrbücher gefunden zu haben: Das Unterbewusstsein vergleicht offenbar jeden Zeitabschnitt mit der Länge des gesamten bisherigen Lebens, soweit es der Erinnerung zugänglich ist. Wer sich bis zum Alter von drei Jahren zurückerinnern kann, der empfindet als Sechsjähriger ein gerade vergangenes Jahr als ein Drittel, als 63-Jähriger aber nur noch als ein 60stel seines bewussten Lebens, so dass ihm ein Jahr dann subjektiv 20mal kürzer vorkommt. Dies alles sind nur kleine Ausschnitte aus dem, was psychologisch über die Zeit zu sagen wäre. Was sie jedoch letztlich ist, hat bisher auch im Rahmen der Psychologie niemand feststellen können. Die praktische Seite Am wichtigsten ist für uns die praktische Seite der Zeit. Wir haben ein volles Lebensprogramm und stehen immer wieder vor der Aufgabe, die uns knapp erscheinende Zeit optimal einzuteilen, zumal uns viele Termine zeitlich genau vorgegeben sind, nicht nur bei der Abfahrt eines Zuges auf dem Bahnhof. Daher verwenden wir Uhren, Kalender und verfeinerte Hilfen zur Zeitplanung. Manche reisen auf der Suche nach der Zeit von einem Seminar zum andern, ohne je die erhoffte Lösung zu finden. Dass wir mitunter meinen, keine Zeit zu haben, dürfte primär an den grundsätzlichen Fehlern liegen, die wir beim Umgang mit der Zeit machen. Die beiden gravierendsten sind nach meiner Beobachtung VULBA und BELBA. VULBA
Zeit
Bodo Volkmann
Wenn ein Mensch sein Leben mit Gott ins Reine bringt, wenn er die Vergebung seiner Schuld annimmt, wie sie aufgrund des Todes von Jesus Christus möglich ist, dann entsteht bei diesem Menschen ein neues Leben. Dazu gehören neue Prioritäten, bei denen die Belange Gottes an erster Stelle stehen, und damit ein neues Verhältnis zur Zeit. Die kleinen, mittleren und grossen Dinge unseres Lebens erhalten ihren jeweiligen Stellenwert aus der Perspektive der Ewigkeit Gottes.
Licht

(Verschiebung unlustbetonter Aktivitäten) ist die Neigung, Dinge zu verschieben, die unangenehm sind: einen Besuch beim Zahnarzt, die Beantwortung eines aggressiven Briefes, die Vorbereitung auf eine wenig interessante Sitzung, Prüfung oder eine peinliche Begegnung.

BELBA (Bevorzugte Erledigung lustbetonter Aktivitäten) ist die menschliche Schwäche, Dinge, die besonderen Spass machen, zu einem falschen, nämlich verfrühten Zeitpunkt zu tun. Nicht nur Sexualpsychologen können dafür Beispiele nennen. Schon Kinder wollen mitunter die Torte schon vor dem Geburtstag essen oder schon vor den Schularbeiten Fussball spielen. Durch VULBA und BELBA ist in manchem Leben ein ruinöses Zeitchaos entstanden, so dass wichtige Ziele in Studium, Beruf und Familie nicht mehr erreicht werden konnten.

Die Lösung ist nicht allein durch asketische Selbstdisziplin zu finden. Vielmehr brauchen wir eine klare Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Nur wer den Sinn seines Lebens als Ganzes gefunden hat und mit allen Fasern seines Seins bejaht, der kann seine Prioritäten richtig setzen: die langfristigen, die mittelfristigen, schliesslich auch die für kürzere Zeitabschnitte wie ein Jahr, einen Monat, einen Tag. Jede Einzelentscheidung für eine kürzere Zeitspanne lässt sich dann danach treffen, ob sie im Einklang steht mit den bereits formulierten Prioritäten für den nächst grösseren Zeitraum und letztlich mit denen für das Leben als Ganzes.

Die geistliche Seite

So führt der praktische Umgang mit der Zeit zu der Erkenntnis, dass sie eine höhere, geistliche Dimension hat. Denn was der Sinn unseres Lebens ist, lässt sich nicht immanent beantworten. Hilfreich und tragfähig ist nur eine Antwort, die noch in der Stunde unseres Todes hält, vor allem aber in der Stunde danach. Anders gesagt: Die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Armbanduhr führt letztlich auf die Frage nach der Ewigkeit. Die Absicht, unsere Lebenszeit sinnvoll zu gestalten, bringt uns auf die Frage nach Gott, dem wir unsere Existenz verdanken.

Gott aber ist kein nebulöser kosmischer Geist: Er ist der Schöpfer des Weltalls einschliesslich der Zeit. Er ist vor allem der Schöpfer des Menschen, dem er etwas von seinem eigenen Wesen mitgegeben hat und den er zur persönlichen Partnerschaft mit sich selbst berufen hat. Den Zugang zu Gott können wir jedoch nur auf dem Weg finden, den Jesus Christus uns eröffnet hat. Wenn ein Mensch sein Leben mit Gott ins Reine bringt, wenn er die Vergebung seiner Schuld annimmt, wie sie aufgrund des Todes von Jesus Christus möglich ist, dann entsteht bei diesem Menschen ein neues Leben. Dazu gehören neue Prioritäten, bei denen die Belange Gottes an erster Stelle stehen, und damit ein neues Verhältnis zur Zeit. Die kleinen, mittleren und grossen Dinge unseres Lebens erhalten ihren jeweiligen Stellenwert aus der Perspektive der Ewigkeit Gottes.

Der Tod ist dann kein Fallen in das Nichts – hier irrte Heidegger – sondern der Grosse Umzug aus der Zeit in die Ewigkeit Gottes. Dazu folgende Schilderung:

Dummke lag im Krankenhaus. Und da er spürte, dass seine Zeit – jedenfalls die irdische – sich ihrem Ende näherte, suchte er sie immer noch festzuhalten. Mit der Hand umklammerte er seine Uhr und schaute in kurzen Abständen auf die Minuten- und Sekundenanzeige... Es war 4:08:30, also vier Uhr, acht Minuten und dreissig Sekunden in der üblichen Sprechweise... Da sah er an der weissen Zimmerwand einen Film ablaufen, den Film seines Lebens. Um 4:09:00 war er als Baby bei den Grosseltern, den Teddybär auf dem Arm... Als es 4:09:20 war, sah er sich als Schüler in der Turnhalle vom Hochreck fallen und spürte wie damals Schmerzen in der linken Brustgegend... Um 4:10:15 stand er mit Erna vor dem Traualtar und antwortete laut mit ja, was seinen Bettnachbarn für ein paar Augenblicke aus dem Schlaf weckte...

Dummke war in Tränen wegen allem, was er in den letzten Jahrzehnten an ewigem Leben versäumt hatte. Um 4:11:00 sah er, wie er damals ein neues Leben mit Gott begann. Wie er jeden Tag begeistert in der Bibel las und sich jeden Sonntag während der Predigt Notizen machte, wenn sie gut war. Wie er mit gleich gesinnten Freunden im fröhlichen Einsatz für die Sache Gottes war... Um 4:11:15 sah er sich in seinen besten Jahren. Er wurde Abteilungsleiter, und alle stiessen mit Sekt an. Aber bald nahm er sich für das ewige Leben kaum noch Zeit...

Um 4:11:25 lebte Dummke bereits im Ruhestand, und obwohl er eigentlich jetzt mehr Zeit hatte, vergeudete er sie mit lauter unnützen Kleinigkeiten, ohne das Reich Gottes an die erste Stelle zu setzen und sich auf den Grossen Umzug vorzubereiten... Und um 4:11:30 sagte er zu Jesus Christus: «Vergib mir bitte, dass mir die irdische Zeit so wichtig war und ich die Ewigkeit immer mehr aus dem Blick verloren habe...»

Plötzlich wurde es heller. Aus der Richtung der Uhr im Gang schien ein angenehmes Licht von einer Art, die Dummke noch nicht kannte... Indem er sich ganz auf dieses Licht konzentrierte, kam er ihm immer näher. Als er schon an der Decke war, konnte er wahrnehmen, wie dort unten auf dem Bett sein Körper lag – mit noch offenen, jetzt irgendwie lächelnden Augen... Auf einmal war ihm klar, dass dieser Übergang ja nicht im bisherigen Raum mit seinen drei Dimensionen geschah. Stattdessen bewegte er sich bereits in der Richtung einer vierten, bisher für ihn unsichtbaren Dimension...

Dummke verstand, dass die Gesundung seines früher so kranken Zeit-Bewusstseins jetzt in der Rückkehr zu Gott und seinem Mass für Zeit und Ewigkeit liegen konnte. Und ihn erfüllte eine unendliche Freude darüber, dass er nun den biologischen, konfliktbehafteten Teil des Lebens und den Grossen Umzug von der begrenzten Zeit in die unbegrenzte, herrliche Ewigkeit Gottes hinter sich hatte.

Teile des Artikels sind dem Buch des Verfassers «Auf der Suche nach der Zeit», entnommen, Link: www.shop.livenet.ch/index.html?nr=392638&k=2&f=0

Bodo Volkmann, D-Möglingen, ab 1946 Studium in Göttingen (Mathematik, Physik und Philosophie) seit 1964 Professor an der Universität Stuttgart, 1994 emeritiert wissenschaftliche Auslandsaufenthalte in USA und Frankreich Vortragsreisen in vielen Ländern; seit 1969 auch häufige Vorträge bei der IVCG seit 1956 verheiratet mit Waltraut Volkmann, geb. Rohrbach vier Töchter, sieben Enkelkinder

Autor: Bodo Volkmann

Datum: 09.06.2005
Quelle: Reflexionen

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