Sozialkapital einsetzen

Christen haben einen Vorsprung

Soziale Kontakte gibt es in unserer Gesellschaft angeblich nur noch beim Grillieren im Freundeskreis oder in virtuellen Netzwerken. «Stimmt nicht», sagt der Soziologe Markus Freitag.
Das gemeinsame Interesse, auch nur im Kleinen, ist laut Soziologe Markus Freitag ein Mittel gegen den sozialen Tod.


Politik lebt – gerade in einer direkten Demokratie – vom Einsatz der Einzelnen für die Gemeinschaft. Deshalb ist das soziale Kapital ein Indikator für die Gesundheit einer Gesellschaft. Wie gesund ist in dieser Hinsicht die Schweiz?

Markus Freitag hat zusammen mit seinen Mitautoren den Wert sozialer Beziehungen – das Sozialkapital – in der Schweiz beschrieben und untersucht («Das soziale Kapital der Schweiz», Verlag neue Zürcher Zeitung, 2014, Markus Freitag).

Ungesunde Entwicklungen

Der Autor stellt der Schweiz vorerst ein gutes Zeugnis aus: «Sozialer Rückhalt und Vertrauen in die Mitmenschen sind auf hohem Niveau geblieben. Auch bezüglich der Freiwilligenarbeit hat sich nicht viel verändert. Die Schweiz gehört zu den zehn Ländern Europas mit dem stärksten Sozialkapital.»

Allerdings bröckelt der soziale Kitt. Gehörten in den 70er-Jahren rund 90 Prozent der Bevölkerung einem Verein an, beträgt dieser Anteil heute noch zwei Drittel. «Zudem kämpfen viele Vereine gegen Überalterung. 1976 waren 44 Prozent aller Mitglieder jünger als 40, diese Zahl hat sich halbiert. Der Schwund betrifft vor allem politische und kirchliche Gruppen. Auch das Milizwesen darbt. Kleine Dörfer haben Mühe, ihre politischen Ämter zu besetzen.»

Die Städte holen auf

Auf der andern Seite gibt es – gerade auch in Städten – Vernetzungsbewegungen, die dem entgegenwirken. Sie sind in der Regel oberflächlicher, projektbezogener und weniger durchstrukturiert als die klassischen Vereine. Freitag nennt in einem Interview das «Urban Gardening» als Mittel gegen den sozialen Tod: Das gemeinsame Interesse, kleinflächig auf dem Balkon oder am Strassenrand Blumen oder Gemüse anzupflanzen, schmiedet zusammen.

Während in den Dörfern oft urban gesinnte Menschen wohnen, die ihre Ruhe geniessen und deshalb auf Distanz zur Dorfbevölkerung bleiben wollen, richten sich Familien zunehmend in der Stadt ein und engagieren sich dort für ihre Kinder. Am schwierigsten haben es die Agglomerationsgemeinden, die weder den dörflichen Charakter noch die kurzen Wege des Stadtquartiers als Trumpf ausspielen können. Hier ist eine bewusste werteorientierte Entwicklung besonders nötig.

Christen als Entwicklungsfaktor

Wie aber kann das soziale Kapital im Dorf, in der Agglomeration oder in der Stadt gefördert werden? Erstaunlicherweise unterstreichen die Untersuchungen die WDRS-These, dass die Kirche bzw. religiöse Menschen wie die Christen für diese werteorientierte Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen: «Religiöse Menschen ... verfügen über mehr Sozialkapital als Nichtgläubige, weil sie ihren Mitmenschen mehr vertrauen.» Dieses Vertrauen in Mitmenschen ist der entscheidende Faktor für die Bildung von Sozialkapital: «Als Glaube an die prinzipielle Wohlgesinnung und Verlässlichkeit von Mitmenschen ermutigt und erleichtert es individuelle wie kollektive Anstrengungen, die ansonsten aus Furcht vor dem opportunistischen Verhalten anderer entweder nur unter sehr hohen Kosten zu bewerkstelligen wären oder einfach ganz unterlassen würden.»

Für das Zusammenleben wichtig ist unter anderem auch ein gewisses Mass an Toleranz, die im Buch von Freitag als «Duldung des Falschen» umschrieben wird. Eine Haltung, die angesichts der (auch) kulturell immer vielfältigeren Schweiz unabdingbar ist. Ob die Schweizer besonders tolerant oder doch eher fremdenfeindlich sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Sicher ist, dass auch hier christlich gesinnte Menschen im Grundsatz gut aufgestellt sind. Wurzelt doch ihr Glaube in der Liebe für die Falschen, nämlich für die «Sünder». Sie erleben diese Toleranz vorerst persönlich – und dann als Anwendung auf die Nächsten, zum Beispiel im Quartier oder im Dorf.

Entwicklungsideen

Das Buch von Freitag präsentiert zum Schluss 150 Ideen zur Förderung des Sozialkapitals. Dazu gehören Ratschläge wie «An der Gemeindeversammlung teilnehmen», «Eine Beiz ins Leben rufen», «In der Kirchgemeinde mithelfen», oder – als Tipp an die Arbeitgeber – «Seinen Arbeitnehmern bezahlten Urlaub für gemeinnützige Projekte einräumen».

Die Untersuchung von Freitag liegt ganz auf der Linie des werteorientierten WDRS-Gemeindebarometers, der anhand von 97 Indikatoren das Mass der Werteorientierung einer politischen Gemeinde aufzeigt und gleich auch Ideen liefert, wie eine werteorientierte Entwicklung der Gemeinde gefördert werden könnte.

Dieser Artikel erscheint im Magazin INSIST 4/2014 zum Thema «Zeitgeist»

Datum: 24.09.2014
Autor: Hanspeter Schmutz
Quelle: Magazin INSIST

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