Weder sprachlos noch taktlos

Ist Glaube ein Tabuthema?

Eigentlich darf heute jeder glauben, was er will. Und dennoch ist das Thema ein heisses Eisen. Was tun?
Schiefertafel Tabu

Als «Tabuthema» wird ein Thema bezeichnet, das nicht oder nur eingeschränkt öffentlich thematisiert wird. Es beruht auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk, das Verhalten auf elementare Weise gebietet oder verbietet. Auf Grund ihres stillschweigenden, impliziten Charakters unterscheiden sich Tabus von den ausdrücklichen Verboten mit formalen Strafen. Oft handelt es sich dabei um Gebiete, die wunde Punkte einer Gesellschaft berühren. Auch wenn heute in westlichen Ländern vielfach von einer «Gesellschaft ohne Tabus» gesprochen wird, gibt es sie auch hier wie überall.

Gehört der Glaube zu den Tabuthemen?

An der Berlinale 2013 machten sich in diesem Jahr auffallend viele Filme auf die Suche nach dem letzten sexuellen Tabubruch, darunter auch Filme mit religiösem Rahmen wie die (homo)sexuellen Entgleisungen von Priestern, Nonnen und Rabbis. Auf der Suche nach der gezielten Provokation, nach dem gewollten Tabubruch in Kunst und Filmen, scheint die Darstellung von Sex gewürzt mit Religion das höchste aller vorstellbaren Auflehnungen gegen soziale Regeln zu sein.

Interessant ist es, wenn man sich die Benimmregeln für Tischgemeinschaften etwas näher ansieht, denn hier geht es explizit um gewollt Angemessenes, Erwünschtes. Der Knigge für gepflegte Konversation empfiehlt, allzu private oder peinliche Themen wie Geld, Krankheiten und Sex, aber auf jeden Fall Themen zu Politik und Religion, zu vermeiden, da sie schnell zu kontroversen Diskussionen führen können. Demnach ist Glaube in der leichten Konversation tatsächlich ein Tabuthema.

Weshalb empfinden wir Glaube als ein Tabu?

Beim Glauben und bei der Religion geht es um das Herz, um den Kern des Menschen, um die innersten Überzeugungen. Glaube ist intim, persönlich, privat. Glaube ist unantastbar, unumstösslich, absolut. Glaube ist übermenschlich, übernatürlich, transzendent. Ein Angriff auf den Glauben ist ein Angriff auf das tiefste Innerste des Menschen, deshalb werden diese Überzeugungen in Gesprächen schnell hitzig vertreten, ausserdem sind sie von göttlicher Seite autorisiert und initiiert und damit nicht verhandelbar.

John Lennon schrieb in seinem Song «Imagine»: «Stell dir vor, es gibt keine Landesgrenzen und keine Religion, nichts, wofür es sich zu töten oder dafür zu sterben lohnt, sondern alle Menschen leben in Frieden.»* Die Lösung dieser Glaubenskonflikte besteht für Lennon darin, sich die Welt ohne Glaube und Religion vorzustellen. Wenn man sich die früheren Kreuzzüge, Glaubenskriege, die heutigen religiösen Minderheiten- und Christenverfolgungen sowie das, was unter der Herrschaft islamischer und anderer Religionen geschieht, ansieht, mag man ihm fast zustimmen.

Aus Sicht des aufgeklärten, postmodernen Menschen ist es auf jeden Fall eine Errungenschaft unserer Zeit und Gesellschaft, dass heute jeder glauben darf, was er will, dass Glaube Privatsache ist. Toleranz und Neutralität gegenüber einander widersprechenden Denk- und Verhaltensweisen sowie Glaubensformen dienen somit der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und sichern unseren diplomatischen Frieden.

Wie gehen wir mit dem Tabu um?

Was die Verbreitung unseres Glaubens betrifft, sind wir vielfach nicht sprachlos, weil wir nicht reden können, sondern weil wir nicht reden wollen: Wir sind taktvoll, stilsicher, diplomatisch und neutral. Menschen suchen dennoch jenseits jeder Neutralität nach Antworten; nach Glaube, Hoffnung, Liebe; nach Trost und Vergebung; nach Sinn und Gott. Seien wir nicht sprachlos im Glauben und dennoch taktvolle Tischgesprächspartner.

Die Autorin Ulrike Weininger ist Medienpädagogin.

Anm.
* Imagine there's no countries. It isn't hard to do. Nothing to kill or die for. And no religion too. Imagine all the people living life in peace.

Datum: 23.05.2013
Autor: Ulrike Weininger
Quelle: wort+wärch, April 2013

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