"Berührt von einem liebenden Du"

Stille-Wochenenden in Klöstern erfahren ungeahnte Nachfrage.
Jens Kaldewey
"Die Bibel hat sich mir erschlossen, sie wurde regelrecht mein Freund."

Ob gestresster Manager oder überlastete Mutter: Immer mehr Menschen sehnen sich nach Ruhe für Körper und Seele. Christliche Meditation und mönchische Weisheit werden neu entdeckt. Und im breiten Spektrum der Wellness-Angebote erfahren auch Stille-Wochenenden in Klöstern ungeahnte Nachfrage. "Nicht nur unser Körper braucht Erholung, auch unsere Seele ist auf Zeiten der Stille angewiesen", weiss der evangelische Theologe Jens Kaldewey.

Wie alte geistliche Übungen den Weg zu neuer Kraft weisen und ein erfülltes Leben ermöglichen, erklärt er im Interview.

Herr Kaldewey, ob Kraft durch irische Segenssprüche oder Seelenfrieden durch Kloster-Stille - neben esoterischen Angeboten verzeichnen auch alte christliche Traditionen wieder einen verstärkten Zulauf. Wie erklären sie sich das?
Jens Kaldewey: Die Menschen sehnen sich aufgrund des enorm gesteigerten Lebenstempos der letzten Jahrzehnte und der unglaublich vielfältigen Entscheidungsnotwendigkeiten nach freien Räumen. Die Sehnsucht nach Orientierung und Ruhe ist eine natürliche Gegenreaktion der Psyche. Nicht nur unser Körper braucht Erholung, auch unsere Seele ist auf Zeiten der Stille angewiesen.

Dass neuerdings auch christliche Traditionen wieder als ein interessanter Weg dazu angesehen werden, hat diverse Ursachen. Ein wichtiger Grund ist sicher der, dass im Christentum selber ein Umdenken stattfindet. Man hat gemerkt, dass durch eine Überbetonung des Denkens und der theologischen Diskussion gewisse Seiten des Glaubens ausgeblendet wurden, die es nun nachzuholen und zu integrieren gilt.

Und das wären?
Für die frühen Christen spielte die eigentliche Gottesbeziehung im engeren Sinne eine grosse Rolle. Ausgelöst durch die Reformation, ging es in den vergangenen Jahrhunderten vermehrt um Elemente wie die Rechtfertigung vor Gott. Das war wichtig und gut, denn das ist ja zunächst der zentrale Punkt des christlichen Glaubens. Aber in den katholischen Traditionen hat man etwas bewahrt, was den Protestanten ein Stück weit verloren gegangen ist, nämlich Gott um seiner selbst willen zu suchen, unabhängig von Funktion und Leistung.

Um Gott zu begegnen, nutzten Christen von jeher gewisse "geistliche Disziplinen" wie Gebet, Bibellese, Meditation, Fasten und so weiter. Nur religiöse Pflichtübungen?
Zunächst einmal ist wichtig festzuhalten, dass eine geistliche Übung an sich nicht einfach Segen produziert. Wir können nicht über Gott verfügen. Es ist nicht so, dass ich durch geistliche Übungen sozusagen etwas einzahle und Gott mir dann etwas schuldig wäre. Sondern es geht dabei um eine Art Zubereitung des inneren Menschen, der sich auf diese Weise empfänglich machen kann für die Begegnung mit Gott.

Es bleibt also immer noch Gott überlassen, ob er uns begegnet?
Ja. Und doch haben wir gleichzeitig das unbedingte Versprechen Gottes, dass er uns begegnet, wenn wir ihn von ganzem Herzen suchen. Das sagt uns die Bibel an vielen Stellen. Wer immer Gott in irgendeiner Weise treu sucht - ihn selbst, nicht irgendeinen Erfolg oder eine speziellen Segen - der wird belohnt werden. Es ist nur so, dass Gott sich vorbehält, wie er das macht, wann er es macht und wie lange er uns warten lässt.

Eine der grössten Nöte überhaupt ist heute, dass wir ein zweckfreies Warten auf Gott oft nicht mehr kennen. Es ist wichtig, dass wir neu lernen, dass nicht immer etwas passieren muss, dass Gott nicht immer sofort etwas machen muss, sondern dass wir einfach einmal Zeit für ihn haben.

Sie sagen, dass jeder Mensch, der Gott aufrichtig sucht, ihn auch findet?
Ja. Generell lohnt es sich für jeden Menschen, sich überhaupt erst einmal zu öffnen. Die Bibel geht davon aus, dass es in jedem von uns etwas gibt, dass uns zu Gott zieht. Paulus drückt das in seiner berühmten Rede vor den Philosophen in Athen so aus: "Gott hat gewollt, dass die Menschen ihn suchen, ob sie ihn wohl umhertastend wahrnehmen und finden möchten; und doch ist er ja jedem einzelnen von uns nicht fern" (Apostelgeschichte, Kapitel 17). Gott ist also im Prinzip jedem von uns nahe, und wir sind dazu geschaffen, ihn zu suchen und geistlich "tastend" zu erfühlen.

Warum aber sollte jemand nun gerade im Christentum suchen und nicht woanders?
Der grosse Unterschied zu anderen Religionen besteht ja darin, dass das Christentum behauptet, dass es einen persönlichen Gott gibt, der uns liebt. Dieser Gott ist, wie es die biblischen Autoren an vielen Stellen sagen, in Jesus Christus Mensch geworden. Gott wurde sichtbar und konkret in dieser Welt. Genau das macht christliche Spiritualität aus: dass ich Kontakt aufnehmen kann mit einem liebenden Du, das sich für mich hingegeben hat.

Tatjana Goritschewa, eine russische Kommunistin, die einst hohe Ämter in der Partei bekleidet hat, bekam von ihrem Yoga-Lehrer, der kein Christ war, einmal das Vaterunser zum Meditieren. Zunächst fing sie an, es einfach wie eine Art Mantra zu meditieren. Und hatte auf diesem Weg plötzlich eine zentrale Begegnung mit Jesus Christus selbst, die ihr ganzes Leben umkrempelte. Sie schreibt darüber, dass sie plötzlich mit ihrem ganzen Wesen begriff, "dass Gott existiert, ein Gott, der aus Liebe Mensch wurde".

Dazu müssen wir wissen, wie Gott die Bibel definiert. Jesus Christus sagte einmal: "Die Schrift ist es, die von mir zeugt." Es gibt in der Bibel gewissermassen eine Art "geheime Mitte", ein Zentrum, und das ist Jesus Christus. Darum kommen wir über die Meditation biblischer Texte, auch des Alten Testamentes, am Ende immer wieder zu Jesus Christus selber.

Eine alte mönchische Form geistlicher Übungen finden wir in der "Lectio divina". Was ist das genau?
Allgemein bedeutet Lectio divina einfach "göttliche Lesung". Diese Lesung geschah bei den frühen Mönchen, den Wüstenvätern, auf die Weise, dass bestimmte Passagen aus der Bibel laut rezitiert wurden. Man las selber laut oder liess sich vorlesen. Auf jeden Fall war mit dem Lesen immer auch das Hören verbunden. So wurde sich die Schrift regelrecht "einverleibt". Später erweiterte sich dieser Begriff insofern, dass man sich auf dieselbe Weise auch weiterführender geistlicher Literatur widmete, zum Beispiel den Schriften der frühen Kirchenväter wie Augustin oder Polykarp. In den Klöstern des Mittelalters kamen dann wiederum weitere Bücher hinzu, zum Beispiel von Thomas von Aquin oder auch Meister Eckkart. Lectio divina bedeutet also, dass man sich die Bibel und dazu gute geistliche Literatur vornimmt, sie in sich aufnimmt und sich von ihr prägen lässt.

Haben Sie selbst Erfahrungen damit gemacht?
Ich habe über 20 Jahre hinweg einmal im Jahr die ganze Bibel durchgelesen. Auf diese Weise hat sie sich mir erschlossen, sie wurde regelrecht mein Freund. Diese Vertrautheit mit der Schrift hat mich sehr geprägt und befruchtet.

Doch auf einmal wurde diese Art, der Bibel zu begegnen, mühsam für mich. Ich merkte, dass es so für mich nicht mehr funktionierte, ja ich entwickelte einen regelrechten Widerstand gegen die Bibel. Und weil ich keine andere Tradition entwickelt hatte, wusste ich nicht mehr weiter. Erst langsam begann ich zu begreifen, dass es an der Zeit war, von der Quantität zur Qualität zu kommen. Statt eine Landschaft zu durchreisen, musste ich lernen, an wenigen Stellen zu verweilen und tiefer zu graben. Dadurch hat sich meine Art mit der Bibel umzugehen verändert. Manchmal denke ich nur über einzelne Verse oder Sätze nach, betrachte und meditiere sie. Ich kaue sozusagen Weniges sehr intensiv.

"Viel hilft viel" - dieser Satz stimmt also für den Umgang mit der Bibel nicht unbedingt?
Ich würde es so sagen: Wenn wir ausschliesslich die quantitative Schiene über längere Zeit fahren und anderen Aspekten keinen Raum geben, verpassen wir etwas. Dennoch würde ich Menschen, die in der Bibel eher unkundig sind, raten, die Sache ruhig erst einmal über die Wissensschiene anzugehen. Und trotzdem gleichzeitig auch den vertiefenden, meditativen Weg zu gehen.

Was passiert denn, wenn wir uns einem Bibeltext einmal für mehrere Stunden aussetzen?
Wir müssen hier unterscheiden zwischen der langfristigen und der kurzfristigen Wirkung. Ein Bibelwort kann mir kurzfristig sozusagen "schmecken", ich empfinde vielleicht Freude, Nähe zu Gott, einen inneren Energieschub.

Was aber, wenn sich dieser Geschmack nicht einstellt? Dann ist es dennoch gut, dass man sich im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Wortes Gottes Verse regelrecht "einverleibt". Langfristig schlägt sich das dann nämlich so nieder, dass mir diese Worte plötzlich in Zeiten der Not präsent sind und dass sie mein Denken prägen, weil sie in mir lebendig sind.

Ich nehme hier gern das Bild von einem Baum. Einerseits wird er von oben durch den Regen benetzt. Dazu haben wir aber auch die Versorgung durch das Grundwasser, die letztlich die verlässlichere ist. Doch wir als Menschen können diese Grundwasservorräte gar nicht anlegen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Wurzeln tief in das Wort Gottes hinein auszustrecken. Denn auf diese Weise können wir vom Geist Gottes besser versorgt werden.

Sie haben Gebet, Bibellese, Meditation und Kontemplation einmal als "Die vier Freunde" bezeichnet. Erklären Sie dieses Bild doch einmal näher.
In der Bibel im zweiten Kapitel des Markusevangeliums steht die Geschichte eines Gelähmten, der von seinen vier Freunden zu Jesus getragen wird. Er allein findet den Weg durch die Menge nicht, er braucht seine vier Freunde, die ihn tragen. Dieses Bild habe ich auf unsere Situation übertragen: Jesus ist auf der anderen Strassenseite, aber wir kommen nicht an ihn heran. Auch unsere Seele ist oft gelähmt. Hier werden die vier geistlichen Disziplinen zu meinen vier Freunden, die mich Jesus bringen.

Die Lectio divina ist einer dieser Freunde. Dazu kommt Oratio, das Gebet, das Gespräch mit Jesus, in dem ich ihm danke, ihn anbete, das Herz vor ihm ausschütte. Aber ich brauche auch meinen Freund "Meditatio". Dabei beschränke ich mich auf wenige Worte aus der Bibel, die ich intensiv besinne, ausspreche und meditiere. Luther hat einmal gesagt: "Man muss die Schrift so lange reiben, bis sie ihren Duft abgibt." Und dann brauche ich auch "Contemplatio", das einfache Verweilen bei Gott. Hier muss ich nichts sagen und auch Gott muss nichts tun. Ich bin einfach da, schaue Gott an und lasse mich von ihm lieben.

Aber wie bekommt man das in einem ganz normalen, oft hektischen Alltag umgesetzt?
Tipp Nr. 1: Man sollte nicht die Haltung haben: "Entweder ich habe ganz viel Zeit oder ich mache es gar nicht!" Stattdessen sollte man kleine Portionen von fünf oder zehn Minuten einplanen. Es gibt Zeiten und Situationen, in denen ist einfach nicht mehr möglich ist. Diese kleinen Portionen kann ich dann durch grössere Portionen einmal in der Woche ergänzen. Versuchen Sie, sich günstige Zeiten zu suchen, in denen Sie alleine sind, zum Beispiel, wenn die Kinder morgens in der Schule sind.

Tipp Nr. 2: Es ist ein grosse Hilfe, wenn man herausfindet, welche Rahmenbedingen für die Begegnung mit Gott für einen selbst am günstigsten sind. Ist es ein Spaziergang? Ist es die kleine Ecke in der Wohnung, die ich mir eingerichtet habe? Ist es gar die warme Badewanne? Man darf ruhig den Mut haben, den eigenen Rahmen zu gestalten. Aber dabei sollte man dann auch bleiben, weil ein gewisses Mass an Tradition einfach hilft, die Seele vorzubereiten.

Was ist das Ziel solcher geistlichen Übungen?
In der Bibel in 2. Korinther, Kapitel 3, Vers 18, heisst es: "Wir alle sehen in Christus mit unverhülltem Gesicht die Herrlichkeit Gottes wie in einem Spiegel. Dabei werden wir selbst in das Spiegelbild verwandelt und bekommen mehr und mehr Anteil an der göttlichen Herrlichkeit. Das bewirkt der Herr durch seinen Geist." In dem wiederholten, lebenslangen Kontakt mit Gott in Jesus Christus kommt es zu einer inneren Veränderung. Meine Gedanken, Meine Überlegungen, mein Wille und meine Wünsche werden denen Gottes immer ähnlicher. Die innere Übereinstimmung mit den Wesenszügen Gottes wächst. Und mit dem Grad der Übereinstimmung wächst auch die Nähe zu und das Verständnis für Gottes Charakter der Liebe.

Was bringt all das für das tägliche Leben? Schliesslich geht es im Christsein nicht nur um Verinnerlichung, sondern auch um Aktion, die die Welt verändert.
Zunächst muss ich dazu einmal anmerken, dass der Vorwurf, die Mystiker und die Kontemplativen hätten sich einfach aus der Welt zurückgezogen, kirchengeschichtlich so nicht stimmt. Das Gegenteil ist der Fall: Sehr häufig waren das sehr aktive Leute, die mitten in der Welt lebten, die an Universitäten lehrten und die soziale Reformen eingeleitet haben. Der einstige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld zum Beispiel hat in seinem Tagebuch "Zeichen am Weg" gezeigt, wie ein verantwortlicher Politiker mit Christus lebt und wie die Impulse, die er bekommt, unmittelbar in die politischen Entscheidungen einfliessen.

Generell zeigen sich nach einiger Zeit folgende Auswirkungen: Man wird gelassener und reagiert nicht mehr so panikartig auf Nöte. Die Liebesfähigkeit, also Menschen aus Gottes Sicht zu betrachten, wird grösser. Und auch jener "seltsame" Vers aus den Psalmen bewahrheitet sich: "Die Länder sind voll seiner Herrlichkeit". Das heisst, man bekommt in den Kleinigkeiten des Alltags einen Blick für die Grösse Gottes. Ein Kinderlächeln, eine Blume, die Sonne, der Wind, der weht - es ist tatsächlich so, dass man den Eindruck gewinnt, von lauter Wundern umgeben zu sein. Alles wird ein Stückchen durchscheinender, man entdeckt Gott überall. Es ist erstaunlich: Die Welt wird nicht langweiliger, sondern immer schmackhafter.

Datum: 29.02.2008
Autor: Sabine Müller
Quelle: Neues Leben

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