Karin Hofmann: «Leid ist nicht messbar»
Magazin INSIST:
Als IKRK-Mitarbeiterin übten Sie Barmherzigkeit in Krisen und Kriegsgebieten.
Gab es Momente, in denen Sie barmherzig behandelt wurden?
Karin Hofmann: Ein konkreter Moment
kommt mir nicht in den Sinn, aber man ist natürlich als IKRK-Delegierte
meistens gerne gesehen. Insofern spürte ich oft eine grosse Akzeptanz und
Dankbarkeit.
Zum Beispiel?
Ein Vater, der nach Jahren wieder seinen Sohn im
Gefängnis besuchen konnte, sagte zu mir: 'Wo bin ich hier? Bin ich noch in
diesem Land, in dem ich so viel Schlimmes erlebt habe? Und wer sind Sie, die
mir so viel Gutes tut?'
Sind es solche
Sätze, die Sie angetrieben haben?
Nein, ich hatte von klein auf etwas in mir drin,
das mich anspornte, mich sozial zu betätigen. Ausserdem hielt ich
Ungerechtigkeit schon immer schlecht aus. Zur Dankbarkeit will ich noch sagen,
dass diese natürlich nicht immer vorhanden ist, weil die Menschen in
Kriegsgebieten unter Druck und Stress leiden. Vor allem ist es klar, dass man
so eine Dankbarkeit nicht verlangen darf. Wenn man eine humanitäre Arbeit macht,
muss das aus einer inneren Grundhaltung heraus kommen. Es wäre falsch, etwas zu
erwarten. Das wäre ein Helfersyndrom. Mir gab diese Arbeit eine Sinnhaftigkeit
zurück. Ich habe mich morgens nie gefragt, ob ich arbeiten gehen möchte – es
war wie durch die Situation gegeben.
Was muss man
neben dieser Grundhaltung auch noch mitbringen für diese Arbeit?
Man muss eine stabile innere Basis haben, denn
diese Arbeit verlangt einem sehr viel ab; sie ist ein Extremjob, eine
Ausnahmearbeit, in der man Grenzerfahrungen ausgesetzt ist. Es gab Situationen,
in denen ich um mein Leben gebangt habe. Immer wieder kamen neue enorme
Herausforderungen auf mich zu. Ich hatte viele Erschöpfungszustände und musste
lernen, wie ich physisch und psychisch gesund bleibe, damit ich die Menschen unterstützen
konnte, ohne daran zu zerbrechen.
Wieso haben Sie
sich diesen enormen Herausforderungen 13 Jahre lang ausgesetzt?
Beim IKRK habe ich meine Berufung gelebt. Mein
ursprünglicher Beruf, bevor ich Sozialarbeit studiert habe, ist Krankenschwester. Anno dazumal vor 30 Jahren sagten mir manchmal vor allem
ältere Leute, dass dies kein Beruf sei, sondern eine Berufung. Für mich war
das jedoch ein Beruf. Als ich dann für das IKRK unterwegs war, kam mir das
viel in den Sinn und ich dachte, dass ich jetzt keinen Beruf mehr habe, sondern
eine Berufung. Ich glaube, das spürt man, wenn man das Gefühl hat, dass es
einfach stimmt. Man spürt: Ich bin nun auf meinem Weg, den ich gehen kann,
will oder muss.
Gab es trotzdem
Momente, in denen Sie diesen Weg am liebsten nicht mehr weiter gegangen wären?
Es gab Tage, an denen ich dachte, 'jetz mag i
nümme'. Ich hätte aufgeben können. Aber ich glaube, dass die einheimischen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter enorm wichtig und so etwas wie ein Vorbild waren. Ich dachte
immer, wenn ich an dieser Situation verzweifeln und aufgeben würde, dann ginge
ich einfach nach Hause in mein schönes Leben mit wenigen Risiken. Aber sie
arbeiten und leben dort und haben sehr oft ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Für
sie ist es in vielen Situationen gefährlicher als für uns Ausländer und
trotzdem haben sie mit Überzeugung für das IKRK gearbeitet und gesagt, diese
Arbeit zu machen, sei absolut notwendig und sie würden nicht aufgeben. Es
lehrt einen ein bisschen Demut, wenn man mit solchen Menschen zusammenarbeitet.
Die Einheimischen waren oft die tragende Kraft dieser Arbeit.
Sie hätten sich
also in Bern ohne Risiken auch sozial betätigen können.
Ja, man muss nicht in ein Kriegsgebiet reisen, um
Barmherzigkeit zu leben. Ich bin überzeugt, dass es genug Momente im Schweizer
Alltag gibt, in denen man anderen Menschen Gutes tun kann. Wenn wir alle
achtsam wären, um solche Momente wahrzunehmen und barmherzig zu handeln, wäre die
Welt schon ein wenig besser. Ich bin sicher, dass wir die Welt auf diese Weise
verändern könnten, oder besser gesagt, dass wir die Welt in solchen Momenten
verändern können. Das sind die ganz wichtigen Momente im Alltag, in denen mir
immer wieder bewusst wird, dass daran eigentlich unser Friede hängt.
Wie macht man
das konkret?
Da kann man im Kleinen anfangen. Vor ein paar
Wochen bin ich von der Aare heimgefahren, als die Kette meines Velos rausgesprungen
ist. Ich bin abgestiegen und habe überlegt, wie ich es anstellen soll, um
möglichst keine schwarzen Finger zu kriegen. In diesem Moment kam ein Mann
hinzu und sagte zu mir: 'Lassen Sie das nur, ich mache das. Ich bin bald zu
Hause, dann kann ich mir die Finger waschen.' Dieser Mensch hat mir nicht das
Leben gerettet; er hat nicht etwas getan, was man tun muss. Aber das sind so
wahnsinnig wichtige Momente im Alltag und im ganzen Leben, weil man die
Nächstenliebe spürt. Diese Nächstenliebe probiere ich zu leben und auch meiner
Tochter zu lehren.
Wie war das in
Ihrem Elternhaus?
Besonders bei meiner Mutter war die Nächstenliebe
schon ein Thema. Sie ist eine gläubige Katholikin und sie hat uns bis zur
Firmung regelmässig in die Kirche mitgenommen. Aber ich habe ganz ehrlich
gesagt keinen Zugang zur Landeskirche gefunden.
Wie definieren
Sie Barmherzigkeit?
Es ist eine Grundeinstellung, ein Grundgefühl
gegenüber anderen Menschen, wie ich mit ihnen umgehe. Das heisst, Menschen,
die es nötig haben, mit Nächstenliebe, Wille und Verantwortungsgefühl zu
unterstützen. Dieses Grundgefühl ist durch das humanistische Menschenbild
geprägt, dass Menschen grundsätzlich gut sind. Es ist mir wichtig, dass ich an
meiner Überzeugung festhalten kann, dass die Menschen gut sind. In schlimmen
Situationen war das manchmal ganz schwierig, aber ich wusste, dass ich von
diesem Menschenbild nicht abweichen will. Es war mir immer wichtig, heimzukommen
und das Menschenbild wieder ins Lot zu rücken.
Inwiefern können
Sie in Ihrem heutigen Beruf Barmherzigkeit ausüben?
Ich musste ein bisschen suchen, um das wieder zu
finden, dieses Gefühl, dass es für mich passt. Was ich als Geschäftsleiterin einer
sozialen Organisation mache, ist von der Aufgabe und der Sinnhaftigkeit her
sehr ähnlich zu meiner Arbeit beim IKRK. Die Bedürfnisse hier in Bern sind
sicher anders, aber die Betroffenheit eines Menschen kann und darf man nicht
gewichten. Das heisst, Leid ist nicht messbar. Ob ein Mensch Liebeskummer hat
oder Angst vor Arbeitslosigkeit oder Angst, nicht zu überleben: In diesen
Situationen geht es einfach immer um einen Menschen, der ein Bedürfnis hat. Auch
hier ist es wichtig, auf die Bedürfnisse zu reagieren und sich humanitär zu
betätigen.
Zur Person:
Karin Hofmann (50) war bis 2012 13 Jahre lang für das IKRK unterwegs in Kriegs- und Krisengebieten als Delegationsleiterin, Delegierte und Koordinatorin für das Schutzprogramm für Gefangene. Seit Mai 2018 arbeitet sie als Geschäftsleiterin von «Wohnenbern» in Bern. Der Verein bietet Menschen, die von Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind, Wohnraum an und begleitet sie auf dem Weg, wieder selbstständig und unabhängig wohnen und Teil der Gesellschaft sein zu können. 2018 erschien im Lokwort Verlag ihr Buch «In jeder Hölle ein Stück Himmel – 13 Jahre in Kriegs- und Krisengebieten».
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Datum: 23.12.2019
Autor: Martina Seger-Bertschi
Quelle: Magazin INSIST