Reisepastor in Finnland

Die Gemeinde der tausend Kilometer

Martin Röker und seine Frau Katja sind Reisepfarrer in Finnland. Ihre 3000 Gemeindeglieder wohnen bis zu 1000 Kilometer voneinander entfernt. Hausbesuche gestalten sich da etwas anders als sonst.
Holzkirche von Sumiainen, Finnland.
Wunderschön und kalt, Finnland.
Der Wald als Kirche.

Genau genommen sind die Rökers zu je einem Drittel zuständig für die Gemeinde in Helsinki, für die Gemeinde in Turku und Tampere und sonst für ganz Finnland. Das Ehepaar ist angestellt von der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Gemeinde. In einem Brief aus Finnland erzählt Martin Röker von Land und Leuten und manchen Merkwürdigkeiten.

Unterwegs in der Kälte

«Vierzehn Grad minus sind nicht richtig kalt. Erst der scharfe Wind macht den Frost schneidend. Als die Autotür ins Schloss fällt und ich hinterm Lenkrad sitze, bin ich zu Hause. My car is my castle. Auf dem Beifahrersitz liegen griffbereit Reiseproviant, Hörbücher und Musik-CDs – und bald auch dem einen und anderen Abfall.

Ausserdem liegt die Landkarte griffbereit; und: nein, wir haben noch immer kein Navi. Hinter mir befinden sich der schwarze Anzug, das weisse Hemd, der Talar. Gestern bei der Ankunft habe ich – wie meistens – vergessen, den Kilometerstand ins Fahrtenbuch einzutragen. Jetzt muss ich den Kugelschreiber in der Hand anwärmen. Er ist über Nacht festgefroren.

1000 Kilometer auseinander

Als Reisepastoren arbeiten meine Frau und ich für die . Zu ihr gehören knapp 3000 Mitglieder, die bis zu 1000 Kilometer voneinander entfernt wohnen. Zu einem Drittel sind wir für die Gemeinde in Helsinki da (für den Stadtbereich Helsinki ist ein Kollege zuständig), zu einem Drittel für die Gemeinde in Turku und Tampere und sonst für ganz Finnland: für Deutsche, finnische Ehepartner, Deutschlehrerinnen und ihre Schulklassen, Finnen, die einmal in Deutschland gelebt haben, Sprachinteressierte und Touristen.

Zu Erntedank, Weihnachten, Ostern oder auch mal so reisen wir mit dem Auto in 20 verschiedene Städte. Und wir erleben die Mentalitäten der Karelier im Osten nahe der russischen Grenze, der Bewohner Lapplands in Rovaniemi und Muonio und der Menschen in der mittelfinnischen Universitätsstadt Jyväskylä und an der Westküste.

Fernunterricht per E-Mail

Dem 600 Kilometer entfernten Konfirmanden erteile ich Fernunterricht per E-Mail. Als sich ein Paar an einem traumhaft schönen See mitten im Land trauen liess, war das für uns eine mehrtägige Unternehmung. Für einen Hausbesuch fahre ich schon mal mehrere Stunden über Sandstrassen durch endlosen Wald.
 
Kürzlich reiste ich die Westküste entlang; jeden Abend Gottesdienst in einer anderen Stadt. Heute Morgen verlasse ich Rovaniemi Richtung Südosten. Aus der hellgrauen Wolkendecke über mir fallen bereits die ersten Schneeflocken. Die Sonne vor mir blinzelt über die Tannenspitzen, ein fantastisches Bild. Jederzeit können aus dem Wald Rentiere oder Elche traben. 80 Stundenkilometer sind erlaubt, die Fahrt zieht sich.
 
Auf einsamen Strecken fahre ich manchmal 100 Kilometer ohne Gegenverkehr. Die Kassiererin an einer kleinen verlorenen Tankstelle freut sich über 80 Euro Umsatz. Das Diensttelefon klingelt. Über die Freisprechanlage versehe ich den Telefondienst – Organisatorisches und Seelsorge. Nur aufschreiben kann ich während der Fahrt nichts.

Kirchenkaffee

Nach sechs Stunden Fahrt komme ich in Kuhmo an, einem kleinen Ort in der Wildnis Ostfinnlands. Er ist beliebt für Kanu- und Wanderausflüge und für den Skilanglauf durch Wälder und über gefrorene Seen. Mit etwas Glück sieht man hier Wölfe, Bären und Adler. Der einsame Ort ist auch für sommerliche Konzertveranstaltungen mit Weltniveau berühmt.

Eine Ehrenamtliche übersetzt den Gottesdienst Wort für Wort ins Finnische. Das ist sonst nicht üblich; die Predigt wird dadurch etwas lang. Doch hier hört man geduldig zu oder zeigt seine Ungeduld nicht.

Nach dem Gottesdienst treffen wir uns wie üblich zum Kirchkaffee. Heute werden Lachssuppe und Blaubeerpudding serviert, normalweise gibt es , einn Hefegebäck, dazu viel Kaffee, auch wenn es auf 21 Uhr zugeht. Die Finnen sind mit jährlich 1300 Tassen Weltmeister im Pro-Kopf-Verbrauch an Kaffee.

Der Alltag

Finnland ist eine junge Nation, vor gerade mal 90 Jahren der russischen Abhängigkeit entkommen. Noch ist Schwedisch teilweise zweite Amtssprache, aber es wird immer weiter zurückgedrängt. Rund fünf Millionen Finnen leben auf einer Fläche wie der Bundesrepublik Deutschland, die meisten im Süden, besonders im Grossraum Helsinki.

Das Land hat den Euro. Beim Einkaufen bezahlen wir fast nur noch mit der Bankkarte. Geben wir doch mal Bargeld aus, werden die Preise auf 5 Cent auf- oder abgerundet. Alles Kleingeld darunter ist praktisch nicht in Gebrauch. Die begehrten finnischen 1- und 2-Cent-Stücke können Touristen für viel Geld in einigen Souvenirläden in Helsinki erstehen.

Tausende Gedenkkerzen

An den vielen Gedenk- und Feiertagen wird die blau-weisse Fahne gehisst. Am 6. Dezember kommt nicht etwa der Nikolaus – der bekanntlich in Rovaniemi zu Hause ist –, sondern dann feiert Finnland die Unabhängigkeit. Blau-weisse Kerzen stehen in den Fenstern. Und zu Allerseelen flackern auf allen Friedhöfen oft mitten im Schnee Tausende von Gedenkkerzen für die Verstorbenen. Ein anrührendes schönes Bild.
 
Religiosität ist in Finnland sehr wichtig. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung gehören der evangelischen Staatskirche an. In der Regel wird ein Neugeborenes erst mit der Taufe als Staatsbürger registriert. Die Eltern verraten seinen Namen üblicherweise auch erst dann. Es gibt ausserdem Orthodoxe, Katholiken und einige Moslems.

, sagte mir ein Finne. Ich ahne, was er meint. Es gibt so viel Beeindruckendes: Die Einsamkeit und Stille inmitten der unzähligen blauen Seen; das klare Licht des hellblauen Himmels; die langen Nächte mit unzähligen Sternen, die wie zum Greifen nah sind; ein Frost, der die Welt erstarren lässt; das Nordlicht, das Grüsse aus einer anderen Welt sendet. Und der überwältigend schnell erwachende Frühling.

Die schweigsamen Finnen

Es heisst, die Finnen seien schweigsam. Einem deutschen Gast bei einer Hochzeit erzählte ich mal den Witz von einer Frau, die ihren finnischen Ehemann zehn Jahre nach der Hochzeit fragt: Er schweigt. Zwei Wochen später fragt sie erneut: Wieder keine Antwort. Sie fragt ein drittes Mal, worauf er muffelig antwortet:

Eine Finnin neben uns ergänzte trocken: Komisch, dass ausgerechnet dieses Volk marktführend Mobiltelefone herstellt, verkauft und nutzt. Via Telefon und SMS können Finnen mitteilsam sein wie sonst kaum jemand.

Zurückhaltende Art

An einige finnische Umgangsformen mussten wir uns erst gewöhnen. Nicht ungefährlich ist der Konjunktiv. Ein Finne versteht ihn als höfliche, aber deutliche Aufforderung. Ein für uns normales empfindet er fast wie Anschreien. Ein Finne fragt vorsichtig und höflich, fast wie ein Gedankenspiel in den Raum hinein: Sein Gegenüber versteht – und tut es.
 
So wahrt man mental eine Distanz, die einem auch räumlich gewährt wird. Wohnhäuser im Wald umgeht man grossräumig, um nicht zu stören. Und fremdes Eigentum wird ignoriert. Man braucht hier sein Rad kaum abzuschliessen. Was man auf der Strasse verliert, findet sich mit grosser Wahrscheinlichkeit dort auch wieder.
 
Jogging, Nordic Walking, Ski- und Schlittschuhlaufen, Angeln, Jagen – überall trainieren Sportler eisern und hart. Finnen betreiben ihren Sport exzessiv. Aber sie sind Einzelkämpfer. Selbst beim Eishockey wird das mitunter spürbar.

Erhörtes Stossgebet

Noch etwas ist an Finnland besonders. Einmal waren neben Organistin und Pastor bis kurz vorm Gottesdienst nur zwei weitere Personen da. Eine von ihnen sandte ein Stossgebet gen Himmel: , ergänzte ich. In Finnland habe ich mehrfach erlebt, dass Gebete erhört werden. Tatsächlich feierten wir dann zu neunt.»


Datum: 14.10.2010
Autor: Martin Röker
Quelle: EKD

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