Die Tücke der Depression
Irgendwann hat es Steffen Weil einfach nicht mehr geschafft, seinem Leistungsanspruch gerecht zu werden. Er rutschte in eine Depression. Auf der einen Seite war er antriebslos, andererseits hatte er mit Panikattacken, Herzrasen und Schlaflosigkeit zu kämpfen.
Damals war er Pastor in einer Gemeinde mit 200 Gottesdienstbesuchern und Vater von vier kleinen Kindern. Die 80-Stunden-Wochen taten ihr Übriges, um in eine Negativspirale zu kommen. Der stattliche Zwei-Meter-Mann, Bruder des Autoren, war am Ende.
Er ging offensiv mit der Krankheit um und erzählte seiner Gemeinde von seiner mittelschweren «depressiven Episode». Von den Reaktionen war er überrascht. «Viele haben mir in Seelsorge-Gesprächen von ähnlichen Probleme erzählt.» Für ihn selbst war die Phase auch ein geistlicher Prozess: «Ich habe neu verstanden, was Gnade und Leistung bedeuten und dass ich Jesu geliebter ‚Lappen‘ bin.»
Von Hoffnungslosigkeit bis zum Suizid
Als Konsequenz hat er versucht, «Energie-Räuber» zu minimieren und die Zeit mit der Familie aufzuwerten. «Ausserdem habe ich das Pensum an dienstlichen Abendterminen stark eingeschränkt.» Rückblickend nach zwei klinischen Aufenthalten sagt Weil, dass ihn die Lebensphase als Mensch, Leiter und im Glauben gestärkt hat.
Vier bis fünf Millionen Deutsche leiden aktuell an unterschiedlich schweren Depressionen. Diese Zahl mache es notwendig, öffentlich über das Thema zu reden, findet der Mediziner Markus Steffens. Der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Sozialmedizin ist Chefarzt in der christlichen psychiatrischen Klinik Hohe Mark des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes in Oberursel.
Er beobachtet in seiner Arbeit, dass der Glaube eine wichtige Ressource sein kann, um der Krankheit das Stigma zu nehmen. Im Gespräch mit PRO erklärt er die wichtigsten der zahlreichen Symptome für eine Depression. Vielen Betroffenen fehle über eine längere Zeit Energie. «Wir sprechen von der Losigkeit-Erkrankung: Freudlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit.» Depressive hätten oft keinen Appetit, litten unter Schlafstörungen oder Suizidgedanken. Wer ein Buch lese, könne den Inhalt schon sehr bald nicht mehr rekapitulieren: die sogenannte Pseudo-Demenz.
Die Summe der Symptome sei verantwortlich für die Schwere der Krankheit. Viele Christen fühlten sich zudem im geistlichen Sinn schuldig für Dinge, die sie nicht beeinflussen können: «Sie drehen den Zeiger der Schuld auf sich.» Vor allem Menschen, die von einem strafenden Gottesbild geprägt wurden, seien dafür anfälliger.
Wenig Hoffnung auf Besserung
Manche hätten nur eine überschaubar lange depressive Phase, erklärt Steffens. Bei anderen wiederholten sich die Phasen bis hin zur rezidivierenden, chronischen oder bipolaren Depression, mit einem Wechsel aus antriebslosen und manischen Episoden. Am häufigsten trete die Depression zum ersten Mal im jungen Erwachsenenalter auf.
Für Janice Braun war ihr Weg in die Depression ein schleichender Prozess: «Die Herausforderungen wurden immer grösser und die Lebensfreude immer kleiner.» Mit 16 Jahren bekam sie die Diagnose «schwere Depressionen»: «Ich war schockiert, dass es einen Namen für meinen damaligen Zustand gab. Aber ich war auch froh, dass ich dadurch ein Recht bekommen habe, mich so zu fühlen, wie ich mich fühlte.»
Die Krankheit bringt die heute 26-Jährige in ihrem Alltag an viele Grenzen. Aktuell arbeitet sie als Jugendpastorin mit 60 Prozent bei der Freikirche «International Christian Fellowship», ICF, in Zürich. Mehr ist körperlich nicht drin: «Ich darf viele Menschen begleiten. Das ist sehr emotional.» Deswegen plant sie rund um anstrengende Arbeitsphasen auch immer wieder viele «Auszeiten» ein. Der Glaube an Gott hat ihr in vielen schwierigen Phasen Hoffnung gegeben: «Er interessiert sich für mich und Jesus wusste, wie es ist, von seinem Umfeld nicht verstanden zu werden.»
Depression ist weder vorhersehbar noch berechenbar
Seit der ersten Diagnose hat sie viele Aufs und Abs. Gerade befindet sie sich wieder in einer schlechten Phase: «Die Krankheit hat mich fest im Griff, selbst wenn ich mich bemühe, sie zu bekämpfen.» Das Tückische sei, dass Depressionen weder vorhersehbar noch berechenbar sind.
Braun hat ihre Erfahrungen kürzlich in dem Buch Der Ozean in mir veröffentlicht. Ihr half, dass sie früh professionelle Hilfe in Anspruch genommen hat. Diese ist bis heute eine wichtige Ressource für sie. Braun weiss, dass sich ihr Zustand nicht im grossen Stil ändern wird. Die körperliche Erschöpfung ist das Eine, aber es sind auch andere Lebensträume ungewiss, zum Beispiel, ob sie und ihr Mann irgendwann einmal Kinder haben werden. «Gerade hier sehe ich, dass für mich nicht alles möglich ist und gewisse Träume warten müssen.»
Vom Gedanken der Familie hat sie sich noch nicht endgültig verabschiedet: «Ich treffe grundsätzlich keine Entscheidung im Leben aus Angst. Trotzdem ist die Angst vor dem Unmöglichen real.» Mit ihrem Buch hat sie sich bewusst dafür entschieden, sich als Christin in Leitungsverantwortung zu öffnen. «Die Bibel ist ein glaubwürdiges Buch. Manche Stellen kann ich im Blick auf meine Depression schwer nachvollziehen, aber ich muss damit meinen Frieden finden. In meinen Gebeten sage ich Gott ganz deutlich, dass ich mich in meiner Realität verarscht fühle.»
Etwa, wenn Jesus in Matthäus, Kapitel 10, Vers 8 davon spricht, dass seine Jünger Kranke heilen und Tote auferwecken würden. «Wo bleibt das Wirken Gottes?», fragt sich Braun dann. Anderseits spüre sie bei besagten Bibelstellen Gottes Zuspruch am klarsten. «Es tut gut, wenn Gott sagt, dass seine Kraft in den Schwachen mächtig ist.»
Suizid ist kein realistisches Szenario mehr
Sie hat aber auch im Kleinen schon erlebt, wie Gott ihr neue Kraft gegeben hat: «Ich habe Tage ohne Angstattacken erlebt, obwohl es in mir ganz anders aussah.» Vor allem als Jugendliche hatte sie oft Suizidgedanken. Auch jetzt schwindet ihr Lebenswille noch sehr oft, aber ein Suizid ist kein realistisches Szenario mehr für sie: «Ich halte das Leiden aus. Zudem kenne ich viel mehr Hilfen als früher.»
Aktuell gelinge es ihr, im Alltag zu funktionieren. «Gleichzeitig bin ich zu allen Menschen, die mich begleiten, sehr ehrlich. Das kann das Gegenüber auch überfordern, weil es mein Leid nicht wegnehmen kann.» Wenn Freunde sie nach ihrem Zustand fragen, ist das besser, als wenn sie verlegen schweigen: «Sie müssen dann meine Antwort aushalten und dürfen mir glauben, wenn ich ihnen erzähle, dass ich morgens nicht die Kraft habe, aufzustehen.»
Verzichten kann Braun dagegen auf ungefragte und lieblose Ratschläge von Menschen, zu denen sie nur eine oberflächliche Beziehung hat. «Manche Ratschläge können wie Schläge sein.» Das abenteuerlustige Mädchen von einst schlummert immer noch in ihr: Sie freut sich, bald ihren Fallschirm-Gutschein einzulösen.
Unterstützung erhält sie von ihrem Mann und ihrer Familie, aber auch von guten Freunden, die sie zum Therapeuten begleiten oder einfach nur mit ihr spazieren gehen. Auch in ihrer Ehe soll das Thema den richtigen Stellenwert einnehmen, ohne alles zu überlagern: «Wir reden viel darüber, wie mein Mann mich im Alltag entlasten kann oder wo wir externe Hilfe brauchen.» Deswegen versteckt sie ihre Emotionen nicht.
Die «zweite Krankheit»: Angst vor Stigma
Laut offizieller Statistik leiden doppelt so viele Frauen wie Männer an Depressionen. Steffens hält diese Zahlen für eingeschränkt aussagekräftig: Frauen nähmen einfach häufiger Hilfe in Anspruch, zudem seien die Krankheitsklassifikationen von Depressionen eher auf weibliche Merkmale ausgerichtet. Durch die Pandemie sei die absolute Zahl der Betroffenen nicht gestiegen, wohl aber die depressive Symptomatik in bestimmten Zielgruppen. «Wie bei fast allen früheren Krisen müssen wir davon ausgehen, dass es mehr werden wird», sagt Steffens.
Wer an Depression leide, bekomme es häufig noch mit der sogenannten «zweiten Krankheit» – der Angst vor Stigmatisierung – zu tun. Betroffene behielten ihr Leiden lieber für sich, zögen sich zurück oder fürchteten bei Bekanntwerden der Depression berufliche oder gesellschaftlich-private Konsequenzen.
Im Rahmen einer depressiven Phase können sich Sprache, Gestik und Mimik der Betroffenen ändern und es kann zu persönlichen Fehleinschätzungen kommen. Der Mediziner vergleicht den Kern einer Depression – die aufgehobene oder eingeschränkte Schwingungsfähigkeit – mit einem Saiteninstrument: «Einer gut gestimmten Gitarre kann ich viele schöne Töne, je nach Situation fröhliche und traurige Melodien oder Akkorde entlocken. Bei einer ungestimmten Gitarre ist es nur noch möglich, undefinierbare Töne zu produzieren. Ein stimmungsmässiges Variieren, ein Mitschwingen ist fast nicht oder nicht mehr möglich.» Depressiven falle es dann schwer, sich an eigentlich schönen Dingen mitzufreuen.
Positive Kontakte sind hilfreich
Angehörige sollten aber auf keinen Fall versuchen, selbst zu therapieren: «Für die Familie oder Menschen in der Gemeinde ist es wichtig, Betroffene ganz praktisch zu unterstützen, indem sie etwa Therapeutentermine vereinbaren oder sie dorthin begleiten. Ansonsten sind alle positiven Kontakte und gemeinsamen Aktivitäten in dosiertem Umfang wertvoll, die dabei helfen, die Tiefphasen der Depression zu überwinden.»
Steffens ist Profi genug, in einer so verletzlichen und sensiblen Situation nicht mit der Bibel zu therapieren. Trotzdem gibt er bei Bedarf Auskunft über sein Christsein. In der Bibel seien es vor allem die Psalmisten, aber auch der Prophet Jona, die ehrlich über ihre Gefühle berichten. Steffens weist in diesem Zusammenhang noch auf eine wissenschaftliche Studie hin: Für drei von vier Betroffenen sei ihr christlicher Glaube eine Ressource, die auch dabei helfe, die Depression gut zu überstehen.
Für Menschen mit schweren Depressionen könnten Medikamente die psychotherapeutischen Elemente gut ergänzen. Bei leichteren Depressionen ist Steffens eher zurückhaltend. «Viele Medikamente wirken gut, aber das gilt es, individuell zu entscheiden.» Auch Seelsorge und Gebete seien wertvoll, aber auch diese werde er in der Behandlung niemandem aufzwingen.
Steffens ist es ein Anliegen, auch die Kinder von Betroffenen im Blick zu haben und mit ihnen altersgerecht über das Thema zu reden. Gerade Jüngere seien irritiert, wenn die Eltern auf einmal so anders seien. «Sie können es sich nicht erklären und fühlen sich dann häufig irrtümlicher Weise schuldig für deren Situation.»
Wer erkrankt, soll sich frühzeitig behandeln lassen
Öffentliche Bekenntnisse wie das des Kabarettisten Kurt Krömer helfen dabei, der Krankheit das Stigma zu nehmen. «Depressionen beschränken sich nicht auf bestimmte soziale Schichten. Wer erkrankt, sollte sich frühzeitig behandeln lassen.» Wer beruflich mit dem Thema zu tun habe, müsse auf das richtige Mass von Nähe und Distanz achten: «Depression sind ja nicht ansteckend», betont Steffens.
Ein enorm wichtiger Faktor sei aber auch das Umfeld: «Es kann einen wichtigen Beitrag leisten, indem es die Stress-Faktoren verringert und den Betroffenen positiv begegnet.» Das deckt sich mit der Beobachtung von Janice Braun: Menschen mit schweren psychischen Krankheiten brauchen für sich Hoffnung: «Viele kämpfen ums Überleben und benötigen ausgestreckte Hände.» Sie selbst hofft, dass sie die Disziplin und Kraft aufbringt, um Entscheidungen zu treffen, die ihr guttun.
Zum Buch:
Der Ozean in mir - Janice Braun
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Datum: 06.07.2023
Autor:
Johannes Blöcher-Weil
Quelle:
Pro-Medienmagazin.de